Alois Krist

 

Soweit die Füße tragen

 

 

 

 

1637 sollen meine Vorfahren als Holzflößer auf dem Rhein nach Holland gefahren sein. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hielten die Familie Mertens in Dollendorf bei Königswinter auf der Rückreise fest. So erzählte es mir mein Großvater bei einem Spaziergang am Rhein zu Bad Godesberg. Mein Großvater Johan Mertens, der Vater meiner Mutter. .Meine Oma wollte den Vater ihres Kindes nicht heiraten. Dieser Mann - aus einer Familie Thönnesen (Kohlenhandlung) zog noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Amerika und blieb dort. In den 20er Jahren heiratete meine Oma dann einen Alois Krist aus Augsburg. Mein Vater wurde adoptiert und hieß dann Josef Krist. Seine Kindheit ab da muss nicht sehr schön gewesen sein. Die Familie zog nach Bad Godesberg.

 

 

 

Ganz anders verlief die Jugendzeit meiner Mutter. Die Oma stammte aus einer alten Godesberger Familie. Es muss eine große Kunstschmiede gewesen sein, die mein Uropa betrieb. Schon um die Jahrhundertwende beschäftigte mein Uropa 14 Gesellen. Dieser Mann heiratete zum zweiten Mal. Mit allen Tanten und Onkeln kam ich nie ganz klar. Weihnachten 1910 am Heiligen Abend kam meine Mutter als drittes Kind meiner Großeltern auf die Welt. Ihren zwei älteren Brüdern wurde sie als Christkind in die Wiege gelegt und auf den Namen Christine getauft. Sie wurde freudig begrüßt. 21 Uhr und 10 Minuten war immer genau an jedem Heiligen Abend ihr Geburtstagstermin. Mama wurde von allen Bekannten verwöhnt; sie war ein sehr hübsches Mädchen.

 

 

 

Die Aufführung „Das große Welttheater“ 1925 brachte meine Eltern zusammen. Als Statisten waren meine Mutter bei den Jungfrauen, mein Vater bei den Junkern. Sofort hatten die beiden Feuer gefangen. Eine große Liebe begann. Der schöne schwarzhaarige Junge muss auch meiner Mutter gefallen haben. In der Familie meiner Mutter fand mein Vater schnell Kontakt. Meine Oma war eine sehr liebe und fromme Frau. Oma war weltoffen, leider hatten die Nazis sie gut mit ihrer Propaganda angesteckt.

 

 

 

1930 heirateten meine Eltern. Mein Bruder war schon unterwegs. Im September 1930 kam mein Bruder zur Welt. Die Arbeitslosigkeit 1930 zwang meinen Vater, in Eschweiler unter Tage im Steinkohlenpütt zu arbeiten. Die Eltern zogen nach Hastenrath. Notberg hieß die Grube. Eine Schlagwetterkatastrophe beendete seine Tätigkeit in dieser Grube. Die Eltern zogen dann wieder nach Godesberg. Mein Vater hatte genug vom Bergbau. Mein späteres Berufsinteresse für Bergbau war für ihn nicht akzeptabel, fanden doch in Notberg 200 Leute den Tod. Aber mit der Wirtschaft ging es wieder bergauf. Mein Vater fand Arbeit am Bau und ich erschien am 03.11.1932 auf dieser Welt.

 

 

 

Meine Mutter übernahm in dieser Zeit eine Schneiderwerkstatt ihrer Meisterin. Meine Mutter nähte irgendwie immer. So ist noch heute eine offene Nähmaschine in Küche oder Wohnzimmer ein rotes Tuch für mich. Die Nähmaschine nahm mir die Zeit für die Mama weg. Im Gegensatz zu meinem Bruder war ich ein richtiges Schmusekind. Ab dem zweiten Lebensjahr oder früher hatte ich eine Betreuerin an meiner Seite. Martins Elschen war das junge Mädchen. Mit der kleineren Schwester Doris und auch Frau Martin verband mich eine gute Freundschaft. Doris war also meine erste Jugendliebe mit 4 Jahren. Der Geruch von den Hasen und dem alten Regenwasser habe ich noch heute in der Nase.

 

 

 

Die Diphtherie, eine damals sehr schlimme Krankheit mit Gehirnkrämpfen verbunden, machte meinen Eltern und allen, die mich gerne hatten, große Sorgen. Ein Herzfehler, ein kleiner Augenfehler blieben bei mir zurück. Laut Anweisung vom Arzt durfte mich keiner aufregen. Ich bekam also immer meinen Willen.

 

 

 

1935 war mein Vater mit der ersten Gruppe von Boge-Angestellten in Eitorf. Es ging um eine Verlagerung des Werkes nach Eitorf. Der Standort wurde festgelegt, evtl. Wohnungen angesehen. Eine Cousine von Mama, Frau Polster (Polsters Hans) zogen auch mit nach Eitorf. Meine Schwester Margret kam am 01.08.1934 (Todestag von Hindenburg) zur Welt. Sie wurde noch in Godesberg geboren. Über unseren Umzug nach Eitorf-Alzenbach weiß ich nicht mehr viel. Doch hatte es mir die Sieg angetan. Oft - so wurde mir berichtet - holte man mich mitten aus dem Fluss.

 

 

 

Nach Godesberg wollte ich aber immer zurück. Bis zum Heiligenhäuschen im Auel soll ich es schon zu Fuß geschafft haben. Die Burgen in Blankenberg waren für mich die abgebrochenen Godesburgen. Mit dem Bus von Boge oder der Bahn war ich noch oft in Godesberg bei Oma und Opa. Hier blieb ich dann auch mal 8 Tage. Die Verbindung zu Martins hielt ich aufrecht. Es waren Zinnsoldaten gefragt. Frau Martin hatte eine Firma, u. a. auch mit SA-Leuten. Blei und Zinn erhielt ich von einem Onkel. Dieser Onkel betrieb eine Schlosserei. Hier wohnte auch die Familie Wehrshofen. Mit einem Papagei, dem Herr W. alle Schimpfwörter beibrachte, die es gab. Frau W. war dann immer sehr böse. Ich mochte die Familie W. sehr gerne. Der Sohn, Cöllestin, ist leider in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges gefallen. Herr W. betrieb in Mehlem (heute Doloritwerke) eine Gärtnerei.

 

 

 

In Alzenbach konnten wir nicht wohnen, meine Mutter hatte Rheuma. Ohne Keller konnte sie hier nicht leben. In Alzenbach war auch eine Rotkreuzstation .

 

 

 

Nach ca. einem Jahr zogen wir nach Diederichshof um. Hier wohnten wir bei der Mutter meines späteren Kegelbruders Walter Zimmermann. Bei der Besichtigung der Wohnung durfte ich mit. Frau Z. gab mir ein Anisbonbon, an dem ich bald erstickt war. Der Umzug nach Diedrichshof kam bald. Noch immer zog mich die Sieg magisch an. Ob am Kahn das Eis wohl hält?

 

Auch hier wurde ich nun schon für kleinere Einkäufe bei Klevers oder Balensiefen (Bäckerei) eingesetzt. Den großen Einkauf brachte mein Vater aus Eitorf mit. Firma Kurscheid („Kurscheid‘s Eck“) war unser Kaufmann. An eine Riesenrolle Schnee, die große Jungen aufgerollt hatten, lag noch bis zum Frühjahr an der Straßenseite in Diedrichshof. Dann kann ich mich noch an Stare erinnern, die geschossen wurden. Mit Gehacktem gefüllt - eine Köstlichkeit.

 

 

 

Die Wohnung hier wurde uns zu klein, ich glaube aber, auch der Eigentümer musste sie selber haben. 1938 zogen wir nach Probach um. Das Haus in Probach hieß zu der Zeit „Sommerhofhaus“. Eine junge Frau (Tante Maria) versorgte ihren alten Onkel. Schnell wurden T. Maria und Mama gute Freundinnen. Die Namenstagsgeschenke von Oma und Opa aus Godesberg erwarteten mein Bruder und ich immer mit Spannung. Die Taschenlampe war für mich ein Vermögen.

 

 

 

Für mich kam dann eine schlimme Zeit. Meiner Mama wurde eröffnet, ich sei kerngesund und mit dem schönen Nicht-Aufregen-Dürfen war es bald zu Ende. Man sagte mir nun nach, ich sei ein sehr oft knatschendes Kind gewesen. Dann habe ich mich aber umgestellt - konnte ich doch mit Schmusen und Küsschen bei allen Frauen mehr erreichen. Oft standen meine Geschwister wütend daneben.

 

 

 

Die Eltern meiner Mutter waren oft in Eitorf. Liebevoll nannten wir sie „alte Oma“ und „alter Opa“. Die Eltern von Papa waren eben die „neuen“ Opa und Oma. Die Rente der Eltern von Mama war sehr gering. Die letzten Tage im Monat waren sie meist in Eitorf. Das Fahrgeld legte Oma immer am Ersten zurück. Mein Bruder war der gute, brave Enkel. Oft war er mit unserem „neuen“ Opa und der „neuen“ Oma auf Tour. Der Opa hatte schon einen PKW. Opa war Reisender in einer Schneidereibedarfsfirma. Mir war es aber egal, lieber frech und dreckig als fein und lieb bei diesen Großeltern.

 

 

 

Vor meiner Einschulung 1939 musste ich mich einer Augenkorrektur unterziehen. Heute ist hier in Eitorf die Feuerwehr untergebracht. Fräulein Antoni war unsere Klassenlehrerin. Diese Lehrerin war sehr gut. Ich war in der ersten Klasse guter Durchschnitt. Betragen hatte ich zum Staunen aller Bekannten immer sehr gut. Ich war einfach ein lieber Kerl!!!

 

 

 

September 1939 rief mich mein Bruder heim zu Oma. Ich spielte gerade am sog. „Bergelchen“ am Neuen Weg (Straße nach Bohlscheid). Oma nahm uns beide in die Arme und weinte bitterlich, es ist Krieg. Die ganze Aufregung verstand ich mit meinen 6 Jahren noch nicht. Pausenlos lief der Volksempfänger. Die Siegesmeldungen an allen Fronten wurden mit großem Gedröhne verkündet. Ein erstes Feindflugzeug habe ich gesehen. Es muss ein Franzose gewesen sein. Schlimmer als den Kriegsanfang empfand ich den Tod meiner geliebten Oma. Noch am Abend brachte sie uns ins Bett, „betet schon alleine, ich muss mit eurer Mama ins Kino“. Leider traf sie bei der Vorstellung der Schlag. Sie verstarb hier in Eitorf im Krankenhaus.

 

 

 

Die Beerdigung der Oma, die Nachrichten von allen Fronten und auch die Krankheit meiner Mama machten mir große Sorgen. Nun blieb ich in den Ferien oft bei Opa in Godesberg. Hier alleine mit ihm war es trotz allem eine schöne Zeit. Kurze Zeit wohnten wir auch bei Opa in Godesberg. Mama bekam ihr 4. Kind, unser Brüderchen Winfried, 1940 im Januar. Sie war sehr krank und musste ins Krankenhaus. Wir Kinder wurden aufgeteilt. Winfried und ich waren bei Opa. Tante Traudchen, Opas Schwester, sorgte für uns. Es war für uns alle eine schwere Zeit. Margret war in Köln und Hans-Josef bei „N. Oma“ und „N. Opa“. Neben der Schule ging ich auch noch zum Kindergarten in Godesberg. Angebrannter Kakao ist mir noch heute gut in Erinnerung geblieben.

 

 

 

Die ersten Soldaten kamen dann auch nach Eitorf zur Einquartierung. Auch wir hatten einen Soldaten aus Ostpreußen bei uns. Die Soldaten kamen aus dem Polenfeldzug. Essen aus der Goulaschkanone und Kommissbrot schmeckten vorzüglich. Im Westen sollte es dann auch bald losgehen, dieser verd. Krieg. Mein Vater brachte mir in dieser Zeit einmal zum Namenstag eine ganze Leberwurst für mich ganz alleine mit. Dies war mein großer Wunsch. Ich habe die Wurst natürlich mit allen geteilt, nur ich hatte die Wurst mal für mich ganz alleine. Unser Abendessen bestand oft aus Graubrot-Schnitten, die wir dann in Kakao tunkten. Alle drei aßen wir dieses Essen gerne.

 

 

 

Nun gab es in dieser Zeit die Möglichkeit, Kinder in die Kinderlandverschickung - kurz KLV - zu senden. Der Plan reifte, mein Bruder und ich sollten hier hin. Nun wurde Papa auch eingezogen; er kam nach Iserlohn. Hier besuchte auch Mama ihn nach Wochen. In der Schule hatte ich jetzt den Lehrer Diwo. Kein guter Lehrer für mich. Verwundet aus dem Ersten Weltkrieg war er immer schlecht gelaunt. Der Lehrer mochte mich nicht. Die Noten fielen immer schlechter aus. Ich ging nicht mehr gerne zur Schule.

 

 

 

Mein Freund Hans Jäger aus Kelters u. a., auch meine Geschwister, spielten viel zusammen. Ein Beutezelt aus Frankreich - mein Vater brachte es auf Urlaub mit - war unser schönstes Spielzeug. Holz besorgen im Wald, Kaninchenfutter machen („Ketteplöck“), spülen sowie Wäsche stampfen, Einkauf, Jauche in den Garten tragen, Gartenarbeiten usw. waren unsere Aufgaben. Opa war jetzt sehr oft bei uns. „Vorwärts“ waren seine Worte. Hatte er nichts mehr zum Rauchen, war die Laune sehr schlecht. Meine Mutter ließ uns aber auch viel Zeit für Spiele. Gerne denke ich an schöne Geländespiele mit den großen Mädels - Judith Schnell und Marliese Nosbach. Die beiden, schon stolze BDM-(Hitlerjugend)-Mädels hatten gute Erfahrungen mit Spielen in der freien Natur. Leider war ich im Winter oft vom Spiel ausgeschlossen. Meine Frostbeulen an den Füßen machten mir große Schmerzen.

 

 

 

Im Januar 1941 gingen mein Bruder und ich dann in die KLV nach Westpreußen. Koffer mit Wäsche hatte Mama gepackt, für mich dann noch Salben und Verbände für den Frost. (Seit Westpreußen habe ich keine Frostbeulen mehr!) Jeder bekam einen Laufzettel um den Hals und ab ging es mit dem Zug. Berlin - Schneidemühl bis Tiegenhofen in Westpreußen ging die Reise. Es war hier nicht mehr weit bis Marienburg a. d. Weichsel. In einer sternklaren Nacht kamen wir in Tiegenhofen an. Mit den Koffern standen wir an den Gleisen. Die Leute schauten auf unsere Laufzettel. Meine Leute hatten mich schnell gefunden. Es war die Familie Dick. Gerne hätten sie ein Mädel gehabt. Mein Vorname Alois gab ihnen diese Information. „Nun nehmen wir den auch“, erklärte Herr D. und ab ging es 15 km mit dem Schlitten zum Gutshof. „Schönhorst“ hieß der Ort. Die Weichsel war nahe. Mein Bruder kam nach Schöneberg.

 

 

 

Erstaunt war ich am anderen Morgen über die Größe des Hofes. Circa 20 Pferde, 80 Kühe, viel Kleinvieh - Gänse, Puter, Enten und Hühner - waren hier vorhanden. Viele Arbeiter auf dem Gut waren z. T. Polen - Zwangsarbeiter, die aber sehr gut versorgt waren. Im Herrenhaus wurde ich untergebracht. Den Rest der Familie Dick lernte ich dann kennen. Ein 13 - 14 Jahre altes Mädchen und zwei kleine Jungen, ca. 4 - 5 Jahre, waren im Haus. Die Kleinen wollten immer nur Pferdchen spielen, ein blödes Spiel. Da zog es mich schon eher zu der frühreifen älteren Schwester hin. Ich war ca. 9, und diese Tochter war sehr von meinem „Anderssein“ angetan. Sie ging dann ins Internat.

 

 

 

Ich musste zur Schule in Schönhorst. Ein Pech war nur: die neue Lehrerin wohnte auf dem Hof Dick. Nun musste ich Aufgaben unter Bewachung machen. Meine Schulleistungen wurden nun befriedigend. Leichte Arbeiten auf dem Hof, Umgang mit Tieren waren für einen Strolch wie mich schon ein Erlebnis. Im frühen Frühjahr ging die Arbeit auf den Feldern los. Nachdem wir die Wagenseiten im Wasser getränkt hatten, fuhren wir vierspännig aufs Feld, mit Mist. Vorne links saß ich als Reiter auf einem Pferd. Ein Freund war mit von der Partie. Wer ist zuerst wieder am Stall? - und die Wettfahrt begann. Im schnellen hohen Bogen kam ich bei der Mistgrube an. Mein Pferd stolperte leicht und ich flog in die Jauche. Alle haben mich ausgelacht. Wie ein begossener Pudel zog ich mich in die Waschküche zurück. Eine Magd schrubbte mich sehr gründlich ab. Alle Kleider und Schuhe kamen ins Wasser. Ich glaube, sie haben mich fünf mal geschrubbt - ich stank aber immer noch…

 

 

 

Danach fuhr ich keinen Mist mehr. Für junge Küken mussten wir Entengrütze in den Kanälen holen - mit Ei vermischt ein gutes Aufzuchtmittel. Die Pferdewagen wurden gereinigt. Mit den Pferden waren wir oft zusammen, es war eine tolle Zeit. Die Tage verflogen, schon bald kam die Heuernte. Vierspännig fuhren wir ins Feld. Es begleiteten uns viele Störche. Drei große Storchennester mit insgesamt acht Jungvögeln waren auf der Scheune. Leider konnten wir keinen Storch einfangen. Ein Stier im Hof war gut beschäftigt. Heimlich sahen wir seinem Tun zu. Auch bei anderen Tieren wurde uns die Fortpflanzung sehr bald klar gemacht. Mein Freund, schon älter als ich, konnte mir alles gut erklären. Leider sollte ich mit dem Schlingel nicht mehr zusammen sein. Trotzdem kamen wir immer zusammen. Hühnerläuse hatten wir gehabt. Warzen an den Händen, am Knie einen großen runden Kuhflecken entfernte die Mutter von Konni. Diese Frau war im Dorf als Kräuterhexe verschrieen. Ich mochte aber diese Frau.

 

 

 

Dann besuchte mich mein Vater, zwei Tage vor dem Angriff auf Russland. Papa war in Deutscheilau stationiert. Am Tage vor seiner Abreise hatten Herr Dick und Papa ein sehr langes Gespräch. Es ging um den Angriff auf Russland. Schon da war Herr D. der Meinung, „jetzt ist der Krieg verloren. Schon Napoleon ist an diesem Land gescheitert, das schafft auch Hitler nicht, die Weiten können wir nicht erobern“. Papa und Herr D. verstanden sich sehr gut. Mit Paketen beladen zog mein Vater an die Front. Auch meine Mutter kam zu Besuch, sie wohnte auf dem Hof. Frau D. besuchte mit ihr und meinem Bruder Danzig und Zopot. Ich hatte natürlich dafür keine Zeit. Die Arbeit auf dem Hof war mir zu wichtig. Schon vier Monate hatte ich meinen Bruder nicht gesehen. Bei seiner Eisenbahnerfamilie war es mir auch zu langweilig. Ein Gärtchen, eine Werkstatt waren sein Reich. Das war schon ganz anders auf dem Gut. Natürlich wollte ich Bauer werden. Eine Kuh mit Bullen, eine Stute mit Hengst, Kleinvieh - und es musste dann klappen.

 

 

 

Im Frühherbst ,wieder in Eitorf kam mir der Nachbarhof in Probach sehr klein vor. Meine Mutter begleitete den Zug als Helferin. Den Diwo bekam ich wieder als Klassenlehrer, es klappte nicht besser mit ihm. Nun kam auch noch der Kommunionsunterricht dazu. Der Kaplan Viethen und auch unser Pastor Aretz waren keine großen Kinderfreunde. Es ging streng zu im Unterricht. Ich hatte in dieser Zeit immer wieder große Geschwüre am Knie. Es tat sehr weh. Teilweise konnte ich nicht zur Schule gehen.

 

 

 

In dieser Zeit fielen auch viele Bomben auf Köln und andere Orte. Mein Vetter Hans kam oft nach Eitorf, hier war es in dieser Zeit noch ruhig. Bei Fliegeralarm ging es in die Keller. Wir pflückten Waldbeeren und Wildkirschen, holten im Wald Holz. Unserem Nachbarn, Herrn Kern, half ich beim Bunkerbau. Im Wald bauten auch wir einen Erdbunker nur für uns. Hier wurde dann auch ganz heimlich die erste Zigarette geraucht. In der Schule wurden die ersten Bombensplitter getauscht. Es fielen jetzt auch in unserer Gemeinde die ersten Bomben, z. B. am Heiligenhäuschen in Rankenhohn. Waldbeeren pflücken - ach, war das eine Plage. Waren bis Mittag alle Eimer voll, wurden auch noch die Töpfchen vom Kartoffelsalat voll gepflückt. Mich setzte man dann neben die vollen Behälter. Eine Ohrfeige fing ich mir ein, als ich aus den vollen Gefäßen „Morbelen“ aß. Am besten war dann am Abend der Waldbeerpfannkuchen. Auf der Welt gab es nichts, was uns besser schmeckte. Bis zum Hohen Schaden ging es zu Fuß in den Waldbeerwald.

 

 

 

Der Bruder von Mama fiel den Heldentod in Belgrad. Er wurde von Partisanen erschossen. Eine Verwandte von Mama war kurz eine Haushaltshilfe für Mama. In Probach beim Haus war ein großer Fischteich. Hier durften wir gerade nach Lust und Laune des Herrn Sommershof fischen. Tante Maria versorgte den alten Mann. Zusammen mit Mama kamen sie aber gut mit dem alten knurrigen Mann klar. Der Alte saß nun mal wieder im Hof. Eine Kreuzotter kroch auf seinen Stuhl zu, er hatte große Angst. Gezielt hieb ich der Schlange den Kopf ab. Danach hatte ich bei dem Alten einen Stein im Brett. Ich durfte nun fischen, wann ich wollte. Ich bekam sogar seine Angel. Mama war leider von den Mutterkarpfen - so nannte sie alle Fische - nicht begeistert. Opa aß aber die Fische und Aale gerne.

 

 

 

1942 war Kommunion - Mama hatte mir einen schönen Anzug geschneidert. Kurze weiße Kniestrümpfe, eine Revolution zu dieser Zeit, durfte ich tragen. Es war als Junge furchtbar, ein Leibchen (Strumpfhalter) zu tragen. Leibchen - ein Ding, unter dem Unterhemd auf der Haut getragen, daran wurden die Strümpfe befestigt. Es war eine Strafe für mich, diese Dinger tragen zu müssen. In der Nacht vor dem Sonntag meiner Kinderkommunion gab es Fliegeralarm. An Blitzaufnahmen über Eitorf und ferne Bombenabwürfe kann ich mich noch gut erinnern. Der eigentliche Kommuniontag ging ruhig zu Ende. Papa war nicht da. Er bekam keinen Urlaub von der Front in Russland. Nur einige Verwandte und Oma und Opa von Mutter und Vater waren da. Als Geschenk bekam ich einen Füller - grün marmoriert - und etwas Geld.

 

 

 

Zwei gute Freunde von Papa waren gefallen. 1942 war mein Vetter Hans aus Köln mit seiner Mutter längere Zeit bei uns in Eitorf. Ich schlief dann bei Bekannten meiner Eltern in Bitze bei Tante Kätti. Ich war aber jeden Tag wieder in Probach. Wir bauten uns auf dem Boxberg einen kleinen Bunker. Hier haben wir dann geraucht. Oh, wie war es uns schlecht. Mit grünen Äpfeln versuchten wir, den Geruch zu tilgen. Ob Mama was gemerkt hat, weiß ich heute nicht mehr!

 

 

 

In der Sieg durften wir immer erst ab Juni baden. Einmal haben wir uns aus alten Säcken, Papierkordelsäcken, Badehosen geschneidert. Alle Mädels und Jungs unserer Clique waren dabei. Im Wasser verloren wir dann unsere Badesachen. Danach durften wir dann mit Erlaubnis der Mama wieder baden. Ja, unsere Mama… nie waren ihr Freunde von uns zuviel, alles spielte sich immer bei uns ab. Alle waren gerne bei uns in Probach. Mama hatte Ideen, Pläne und spielte auch teilweise mit. Ich mochte meine Mutter sehr, sie sah gut aus und ich war stolz auf sie. Oft fuhren wir mit dem Milchmann, Ersfeld’s Heinz, aus der Schule heim. Gartenarbeiten für unseren Lehrer Diwo machte ich nie. In der Schule war es für mich nicht besser geworden. Mein Bruder erhielt seine erste Uniform von der HJ.

 

 

 

1943 ging Hans-Josef in die Kinderlandverschickung (KLV) ins Sudetenland. Da wollte ich auch hin. Alle Reisepläne waren fertig, ein Schulfreund, Hans Theisen, wollte auch mit. Da wurde das Lager im Sudetenland aufgelöst. Mein Bruder kam nach Hause. Mein Wunsch war: weg von diesem Lehrer Diwo und in die KLV. Anfang 1943 ging dann ein Transport ins Lager nach Weißwasser (Niederlausitz). 119 laute, sehr wilde Jungen kamen hier zusammen. Nach den ersten Prügeleien in den Stuben - z. T. kamen die Jungen aus nicht den besten Vierteln von Köln - sorgten die Mannschaftsführer für Ordnung. Es kam zum Teil zu harten Erziehungsmaßnahmen. Nach acht Tagen war unsere Lagermannschaft nicht mehr wiederzuerkennen. Diese Disziplin mit strenger Erziehung und guten Lehrern gefiel mir gut. Nach kaum zwei Monaten war ich einer der besten Schüler.

 

 

 

Diese Noten und meine guten sportlichen Erfolge brachten mich schnell im Jungvolk weiter. Schon bald war ich Unterführer mit weiß-rotem Band. Meine Lehrer schickten mich mit meinem Freund Hans Theisen zum Lehrgang nach Bad Landeck im Glatzer Bergland (Oberschlesien) bei Ratibor. Wir waren die jüngsten Teilnehmer in diesem Lager. Harte Schulung - kein Problem. Aber der Sport - noch heute mag ich keine Medizinbälle sehen. Die harten Würfe der Großen taten sehr weh. Das Klettern am so genannten „Affenfelsen“ und ein mutiger Sprung über den Bach ins Sudetenland brachten mir Punkte ein. Mein Sprung ging nur bis zur Bachmitte und voll hinein. Stolz, mit grüner Schnur - jetzt Scharführer - kamen wir ins Lager Weißwasser zurück. Nun hatten wir schon Aufgaben: Fähnlein zu führen, Geländekampf planen und Schiedsrichter zu spielen.

 

 

 

Die Betreuung und auch die Verpflegung waren sehr gut. Die Schule machte mir auch viel Freude, ich hatte gute Erfolge hier. Mama kam zu Besuch und brachte die Mutter von Hans mit. Im Gespräch mit meinem Lehrer Zwicker war Mama erstaunt über meine Leistungen und Noten. Ich glaube auch, dass sie ein bisschen stolz auf meinen Rang im Jungvolk war. Von 119 Jungen war ich einer der besten Schüler. Große Zeiten sollten für uns kommen, die Welt stehe uns offen, so wurden wir mit Hitlerpropaganda überschüttet. Wir glaubten an das Gute. Den Überblick des Ganzen hatten wir leider nie. Hans‘ Vater war gefallen. Die Mutter, Frau Theisen, nahm Hans mit nach Eitorf. Ich war sehr traurig, aber all‘ mein Reden nutzte leider nichts. Hans zog ab. Mama fuhr dann auch wieder ab, sie war beruhigt, mir ging es gut, von Bomben keine Spur hier im Osten.

 

 

 

Ich brachte alle drei noch zum Bahnhof Cottbus. Dass ich Hans nie wiedersehen sollte, hätte ich nicht gedacht. Einige Jungs wurden mit Läusen in den Haaren gefunden. Hier machte man kurzen Prozess, eine Glatze wurde geschnitten, wer die Kameraden auslachte, bekam auch eine Glatze. Ich habe nicht gelacht und behielt meine Haare. Schon bald wurde unser Lager geräumt, Kasernen wurden gebraucht. Noch eins zum Lager Weißwasser, hier gab es jeden Morgen Grieß- oder Haferbreisuppe in großen Kannen. In der Pause gab es Tomatenmarkbutterbrotte. Eine Zitronen-Rosinen-Suppe war nicht mein Fall.

 

 

 

Mit noch sieben weiteren Teilnehmern kamen wir in ein anderes Lager, nach Goldentraum an die Neißetalsperre bei Greifenberg. Es war Mai 1944. Ein Lager mit 34 Jungen, Lagerleiter Junggeburth aus Düren, Frau und Tochter mit Sohn trafen wir hier an. Es fiel uns nicht leicht, hier Kontakt zu bekommen. Wir waren immer die Neuen. Hier im Lager gab es auch einige Bettnässer. Diese Jungen kamen auf die Stube „Seefahrer“. Wer 14 Tage trocken war, konnte wieder ausziehen. Damit hatte ich selber keine Plage.

 

 

 

Nach einiger Zeit verstanden wir uns alle sehr gut. Unser Lager „Jugendseehaus“, direkt an der Talsperre gelegen, war schon sehr romantisch. Für den Winter kamen „Beuteski“ und kleine Uniformen für uns an. Im Sommer 44 machte ich mein Frei-, Fahrten- und Totenkopfschwimmen klar. Ein ca. 5 Meter hoher Pfeiler an einer Brücke über die Sperre war unser Sprungturm. Hier im neuen Lager war die Nazi-Propaganda nicht sehr groß. An eine einzige Begegnung mit Judenkindern kann ich mich noch gut erinnern. Bei einer Besichtigung und Fahrt ins Riesengebirge sahen wir in Hirschberg drei Kinder, sie hielten sich an der Hand und jeder hatte den Judenstern auf dem Mantel. Einige Freunde spotteten über diese Kinder, ich mochte es nicht, mit den Worten „Was haben die euch denn getan?“ war auch schon die Begegnung vorbei.

 

 

 

Es ging weiter nach Krumhübel, den Wasserfällen, Schlesierbaude und zur Schneekoppe. Die Spitze der Schneekoppe erreichten wir nicht. Ein Schneetreiben mit Sturm zwang uns zur Umkehr. Im Herbst 1944 holten wir mit den Bauern die Kartoffelernte ein. Unser Lohn war eine große Menge Deputatkartoffeln für unser Lager. Im Dorf Goldentraum suchten zwei Freunde und ich ein Zimmer für eine ausgebombte Mutter aus Köln. Wir haben keine Stube gefunden, die Menschen waren hart. Ein halbes Jahr später haben auch diese Leute alles verloren. Am Bach vor dem Hause bauten wir riesige Talsperren (meine Idee). Wir legten uns Schatzkammern im Wald an. Fußball und Handball u. a. Spiele waren unser Zeitvertreib. Hier habe ich auch mal eine Ente vor dem Einfrieren im See gerettet, es war eine Wildente. Das Eis auf dem See knackte und hatte viel Spannung. Es knallte manchmal wie ein Schuss.

 

 

 

Die Russen kamen näher, wir mussten zum Schanzen und Schneeräumen raus. Das Jahr am See ging schnell vorbei. Die Invasion im Westen, Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 machten uns große Sorgen. Aber wir glaubten alle an eine Wunderwaffe, die die Feindflugzeuge vom Himmel holen sollte. Es wurde viel über die Wunderwaffe geredet. Nun gab es auch hier in Schlesien Luftkämpfe und Bombenabwürfe. Weihnachten 1944, zu Essen hatten wir genug. Päckchen aus der Heimat wurden am Hl. Abend (hieß damals „Wintersonnenwende“) ausgegeben. Wir sangen das Lied „Hohe Nacht der klaren Sterne“ usw.). Mein Päckchen war auch dabei. Kuchen, 5 DM, ein paar Schuhe u. a. Dinge waren eine große Freude. Der Brief von Mama mit einem schönen Bild von ihr - Mama mit schwarzer Kappe sah sehr sehr gut aus. Stolz habe ich das Bild meinen Freunden gezeigt. Es hat mich noch lange Jahre in der Brieftasche begleitet. Dieses Weihnachtsfest war für mich am schlimmsten, schon zweimal Weihnachten nicht zu Hause, nur davon träumen, wie geht es jetzt in Eitorf zu, ist schon hart für einen gefühlsbetonten 12jährigen Jungen.

 

 

 

Schon im Januar 1945 hörten wir den Kanonendonner der nahenden Ostfront. Ende Februar 1945 sind wir dann über Greifenberg mit der Bahn nach Dresden und weiter nach Zwickau verlegt worden. Zwei Tage vor dem Großangriff auf Dresden haben wir noch eine umfassende Stadtbesichtigung gemacht. Das letzte Glockenspiel im Zwinger haben wir noch um 12 Uhr gehört, danach kam die Brandnacht für die Stadt. Brücke, Kirche und Zwinger gingen in Schutt und Asche unter. Unser Lagerführer führte uns durch die Stadt. Den LMF nannten wir immer „Kamel“, er hatte ein so langes Gesicht, war aber sonst ein feiner Kerl. In einer Turnhalle nahe beim Bahnhof haben wir in Dresden geschlafen. Wir hatte nur leere Strohsäcke als Unterlage. Die Versorgung all der Flüchtlinge in Dresden klappte hervorragend.

 

 

 

Mit der Bahn ging es weiter zum Lager nach Culmitzsch bei Zwickau. Eine Schule war hier für uns geräumt worden. Der Ort ist heute vom Uranbergbau abgetragen worden. Den Brand von Dresden konnten wir von hier aus noch gut sehen. Ständiger Fliegeralarm, ein Bombenteppich ca. 150 m von unserem Haus in den Hang niedergegangen machten uns große Angst. Vorher schrie eine Frau, die in den Keller kam, „eine Zielbombe fällt auf uns runter“ - Zielbomben markierten einen Bombenteppich. Ein Gebrumm von vielen Flugzeugen ist zu hören, dann Krach und es wackelt alles um uns herum im Keller. Menschen schreien, beten und sind still. Todesangst haben alle in den Gesichtern. Wir haben es überlebt. Hunderte von sog. Terrorbombern sind am Himmel, wo fliegen die wohl hin? Kilometerlange Flüchtlingstrecks aus dem Osten sind auf der Autobahn. Tiefflieger sausen herunter und beschießen alles, was sich bewegt. Eine Kurzausbildung mit der Panzerfaust erteilte uns der Volkssturm. Diese Dinger waren aber für uns Jungen zu schwer. Zu dieser Zeit glaubten wir immer noch an unseren Endsieg und an die Wunderwaffe.

 

 

 

Spielen war nur noch im Wald möglich. In einer Nacht riss uns ein angeschossener viermotoriger Flieger den Kamin vom Dach und landete in einer Schlucht nicht weit vom Friedhof entfernt. Ich stand gerade im Schulhof und sah den schwarzen Schatten niedergehen. Der Luftsog war zu spüren. Die Maschine zerbrach, alle sechs Flieger fanden den Tod. Die Besatzung saß in Freizeitkleidung und Pantoffeln in dem Flieger. Der Pilot saß tot in der Kanzel, den Steuerknüppel fest in den Händen. Das Flugzeug war voller Brandbomben. Alle sechs lud man auf einen Karren und sie wurden auf dem nahen Friedhof begraben. Dieses Bild der gefallenen Flieger kann ich nicht vergessen.

 

 

 

Nun war Hunger unser ständiger Begleiter. Ein Stückchen Margarine, ca. 10 g, zwei dünne Scheiben Brot, über der Herdplatte knusprig gemacht, mussten bis zur dünnen Gemüsesuppe am Mittag reichen. Was hatten wir am Abend - ich weiß es nicht mehr! Ja, Hunger tut weh, noch heute kann ich kein weggeworfenes Stück Brot am Straßenrand sehen!! Aus Hunger sind wir auch mal in einen Keller gestiegen und haben uns Fleischkonserven geklaut. Oh, wie war es uns danach schlecht geworden. Wir haben alle geschwiegen. Der Schulunterricht lief weiter. Löwenzahn und Brennnesselgemüse haben wir im Frühjahr gekocht oder davon Salat gemacht.

 

 

 

Dann kam der Ami (Amerikaner) bei uns im Dorf an. Tage vorher Kanonendonner, viele Flieger und kaum ein deutscher Soldat. Einen Panzer sahen wir am Dorfrand, die Soldaten mussten den Panzer wegen Spritmangels aufgeben. Ein Soldat lief durch unser Dorf, genau vor der Schule wurde er von Amerikanern erschossen. Was machen die Amis mit uns? 24 Stunden kam keiner in unser Haus. Dorfbewohner mussten uns als Hitlerjugend benannt haben. Packs wurden auf unsere Schule gerichtet. Dann kam ein amerikanischer Offizier mit Begleitung in unseren Klassenraum und erklärte mit stolzer Stimme „Hitler kaputt, go home ihr German boys“. Noch nie, so glaube ich, haben ca. 13jährige Jungens an der Deutschlandkarte den Weg nach Hause gesucht. Die Karte hing an der Wand im Klassenraum der Schule. Unsere Lehrerbelegschaft wurde aufgeteilt, all, die ihre Eltern im Osten vermuteten, zogen gen Osten, alle anderen nach Westen. Unser LMF zog mit ca. 16 Jungen in den Osten, ich haben niemals mehr von diesen Kameraden etwas gehört.

 

 

 

Wir zogen mit 14 Mann plus Lehrer, Frau, Sohn und Tochter in den Westen. Frau Junggeburth machte uns mit Helfern aus der Küche aus Betttüchern Rucksäcke. Jeder packte soviel er tragen konnte hier rein. Der Rest kam in einen Koffer auf den Speicher der Schule. Was hatten wir wohl eingepackt? Unter anderem eine Fliegerkappe, aber kaum nützliche Dinge für die lange Wanderung in die Heimat. Mitte April 1945 zogen wir los. Oh, wie schmerzten uns schon nach dem ersten Tag die Füße. Einen Leiterwagen der Familie Junggeburth zogen wir auch mit uns. In einer Scheune haben wir die erste Nacht verbracht. Mit Spelzen und Staub am ganzen Körper machte das Marschieren am Tage keine Freude. Der Tag war heiß, der Rucksack schwer und die ersten Dinge wurden rausgeschmissen aus dem Ranzen! Die Schätze von 13Jährigen - Messer, Steine und andere Dinge - wanderten in den Straßengraben.

 

 

 

Am zweiten Tage unserer Wanderung legte ich, so glaube ich, den Grundstein zu meinem späteren kfm. Beruf. Ich organisierte für noch zwei Kameraden die Übernachtung. Freundlich gingen wir auf eine kleines Bauernhaus zu. Nur für eine Nacht baten wir um ein Bett. Fast nie mussten wir zweimal fragen. In einer Scheune habe ich auf dieser Reise nie mehr geschlafen. Abendessen, Frühstück, Eier und Wurst wurden uns z. T. gegeben. Wir haben gute Menschen angetroffen. Wir waren aber auch die ersten Menschen, die in den Westen zurückfluteten. Ich blieb bei maximal drei Leuten und habe es soweit gut hinbekommen. Wir mussten erzählen, woher und wohin, und gute Wünsche mit guten Butterbroten begleiteten uns in den neuen Tag. Regen, Sonne und Wind machten uns hart. Wettergebräunt zogen wir über Jena, Weimar, Eisenach, Dillenburg, Siegen, Olpe und Waldbröl bis nach Eitorf.

 

 

 

Später, 1999, schrieb Alois Krist: „Am 8.Mai 1945, ein sehr warmer Frühlingstag, ging ich mit drei Freunden in ein Haus um Wasser zu trinken. Eine vom Leid gezeichnete Frau gab uns Wasser. An der Wand in der Stube war eine große Beschädigung. An dieser Stelle hing noch vor ein paar Tagen ein Bild vom gefallenen Sohn der Frau. Die Menschen aus dem nahen KZ-Lager Buchenwald durften sich mit Kleidern bei der Bevölkerung versorgen. Bei dem Bild des gefallenen Sordaten, einem SS-Mann, gerieten die Leute aus dem Lager in Wut und zerstörten das Bild und die Wand. In diesem Augenblick kam über den Volksempfänger die Nachricht vin der Kapitalution. Danach kamen wir am Hauptlager von Buchenwald vorbei. Wie wahren alle erschüttert vom Anblick all der Leiden, die hier geschehen waren. Schon als 12-jährige Jungen kam uns der Gedanke, sowas darf nie wieder geschehen.“

 

 

 

Es war ein sehr warmes Frühjahr. Irgendwo auf der Autobahn - teilweise durften wir hier gehen - kamen wir an einem kleinen Dorf vorbei. Meine Schuhe waren gebraucht, zwei Tage lief ich schon in flachen Turnschuhen - es war eine Qual. Ein Schuster im Dorf sah mein Schuhwerk. Er gab mir ein paar gebrauchte Schuhe aus seiner Werkstatt. Die Schuhe waren gesohlt. Meine letzte Barschaft, meine 5 DM, wollte der Mann nicht haben. Meine Schuhe waren nicht mehr zu machen. Die Schuhe hielten dann bis nach Hause. Dem Mann war ich sehr dankbar.

 

 

 

In Hessen (Niederaula) zwang uns ein Dauerregen zu einer längeren Wanderpause. Wir saßen ca. 10 Tage fest. Ein Dr. med. im Ort war noch im März in Eitorf gewesen. Über Beschuss und Bombenteppiche hörte ich hier voller Sorgen in der Fremde. Es wurde mir fast zu lange, bis wir weiterzogen. Einmal erwischten wir eine verkehrende Kleinbahn, die uns 11 km weiterbrachte. Am letzten Tag der Reise kamen wir nach Freudenberg bei Siegen. Es klappte mal wieder gut mit der Übernachtung. Bei einer Kriegerwitwe waren wir untergebracht. Früh ging es weiter. In Waldbröl halten wir einem LKW, einem sog. Holzkocher, wieder flott zu werden. Holzkocher fuhren damals mit Holzgas. Der LKW fuhr nach Eitorf zur Firma Boge.

 

 

 

Nun ließ ich nicht mehr locker, mit noch zwei anderen Freunden sprangen wir auf den Wagen und fuhren mit. Unser Lehrer schimpfte, wollte er uns doch erst in Köln freigeben. Wir waren froh, den Leiterwagen nicht mehr ziehen zu müssen und bis Eitorf fahren zu können. Über das Ottersbachertal kamen wir in Probach am Spätnachmittag an. Die Schwestern Lascheid sahen uns vom Wagen springen in der Höhe vom Aufgang nach Baleroth - Boxberg - und liefen zu uns nach Hause. Ängstlich zog ich die letzten Schritte in Richtung Heimathaus. Das heiße Wetter hatte für offene Fenster gesorgt. Unser Haus sah von weitem aus wie ausgebrannt. Mit Herzklopfen und großer Sorge kam ich an die Haustüre. Ein kleiner, fast fünf Jahre alter Junge machte mir auf und meine Mutter hielt mich in den Armen. Schon über zwei Jahre war kein Lebenszeichen von mir gekommen. Ich war wieder zu Hause!!

 

 

 

Die Freude war bei allen groß. Meine zwei Freunde kamen mit zu uns. Einer hatte Verwandte in Eitorf, der andere musste nach Dollendorf, er zog am anderen Tag weiter. Sehr schmutzig, aber kerngesund kamen wir alle drei in die Badewanne. Mein Bruder humpelte noch etwas, er hatte beim Bombenteppich beide Füße gebrochen, in einem Bombentrichter hat er überlebt. Der kleine Bruder Winfried wich nicht von meiner Seite. Dieses gute Verhältnis zu ihm brach nie ab. Opa war da.

 

 

 

Schon am nächsten Sonntag musste ich zur Kirche. Kirche - was war das noch? Seit über zwei Jahren gab es in der KLV keinen Kirchenbesuch mehr. Zunächst wollte ich nicht, aber Mama und Opa waren da anderer Meinung. Aus zwei alten blauen Poströcken, die Mama geschenkt bekommen hat, nähte sie mir in zwei Tagen einen Anzug mit kurzer Hose. Zum Anziehen hatte ich soviel wie nichts mehr. Hierfür musste Mama Tag und Nacht gearbeitet haben. Dann ging ich stolz zur Kirche. Jeder, der wieder zu Hause war, war ein Held, so fühlte ich mich auch mit meinen 12 Jahren. Nach der Messe sah ich Frau Theisen an der Kirche stehen. Froh stürmte ich auf sie los, um nach Hans zu fragen. Still wandte sie sich ab - Hans war im letzten Bombenteppich gefallen. Ich glaube, sie konnte es nicht überwinden, Hans in Weißwasser abgeholt zu haben. Dies hatte mir noch keiner gesagt, gab es doch so viel zu erzählen. Meinen Kindern habe ich dann oft auf dem Friedhof sein Heldengrab gezeigt und auch die Eintragung seines Namens im Heldengedenkbuch.

 

 

 

Schnell gingen die Wochen vorbei, Papa kam Ende Juni 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück. In Ungarn am Plattensee, hat es ihn auf einer Vierlingsflak erwischt. Er war verwundet und hörte fast nichts mehr die erste Zeit. Wir brachten Opa mit einem Leiterwagen nach Godesberg, mussten aber erst durch eine Entlausungsanstalt in Dollendorf, dann weiter über eine sog. Pontonbrücke über den Rhein. In Godesberg war noch alles heil. Ich blieb dann einige Wochen bei Opa in Godesberg. Es war noch keine Schule, und so half ich in einer Gärtnerei am Ort. Mit Opa ging ich viel spazieren.

 

 

 

Opa war ein sehr starker Raucher. Kirschbaumblätter und selbst gezogene Tabakpflanzen wurden fermentiert (im Misthaufen), getrocknet, geschnitten und geraucht. Es war für Opa ein Freudentag, wenn ich mal von einem Ami - schwarz oder weiß - eine Zigarre oder Zigarette geschenkt bekam. Die Kippen der Besatzungssoldaten habe ich gesammelt und Opa hatte zu rauchen. Hinter den Kippen waren aber sehr viele Leute her. Für den Ofen holten wir Holz im Kottenforst mit einem Leiterwagen. Circa 6 km weit kam unser Holz her. Im Keller wurde es zerkleinert und alles mit der Hand geschnitten. Es war etwas besonderes, mitten in der Stadt Holz zu schneiden. Papa und Hans-Josef arbeiteten am Bau. Allmählich hatte mein kleiner Bruder Winfried sich an den Papa gewöhnt. Er aß mit ihm am Bau. Zum Beispiel Hotel Prinz Karl, heute Modegeschäft am Markt in Eitorf.

 

 

 

Die Schule begann und ich war wieder in Eitorf. Durch keinen Unterrichtsverlust war ich natürlich meinen Altersgenossen weit überlegen, hatten sie doch sehr viele Ausfallstunden in den letzen Jahren gehabt. Lehrer Hammer war unser Klassenlehrer. Diesen Lehrer mochte ich sehr. Er war ein frommer und gerechter Mann, mit einem Tick: seine unendliche Geschichte, der Graf von Monte Christo, frei von ihm erzählt - aber nur, wenn wir alle brav waren.

 

 

 

Wie ein Hammerschlag traf uns im Dezember 1945 die Krankheit von unserem kleinen Winfried, kaum fünf Jahre alt. Fieber und Krämpfe setzten ihm sehr zu. Ich konnte ihn nicht mehr leiden sehen, diesen überaus lieben und freundlichen Jungen. Keine Mittel, um Fieber zu senken oder sonst Medizin einzusetzen. machten uns keine Hoffnung mehr. Am 10. Dezember 1945 verloren wir ihn. Er wurde im Zimmer aufgebahrt. Ich besuchte ihn noch einmal, wollte dann aber nicht mehr in das Zimmer gehen. Das Leid und der Schmerz zeichneten sich in seinem kleinen Gesicht ab. Wie in Trance verlebte ich die Tage bis zur Beerdigung. Meine Mutter war noch der Meinung, er lächelte im Tode, ich sah es anders. Mein Bruder und ich bastelten an einem Bauernhof für den Kleinen zu Weihnachten. Ja, es war ein trauriges Weihnachten 1945. So hatte nun auch unsere Familie ein Opfer für den Krieg bringen müssen.

 

 

 

Mein 13. Lebensjahr war erreicht. Gute Schulnoten, schöne Schultage, Mitmachen in der kath. Jugend ließen mich den Schmerz vom Verlust des kleinen Brüderchens vergessen oder besser gesagt ertragen. Die Sorge um unser tägliches Brot war groß. Mama arbeitete zum Teil als Näherin in Godesberg bei den Belgiern - Besatzungsfamilien - für Naturalien. Zigaretten, Butter und Speck waren zu der Zeit die Währung. Für 10 Reichsmark gab es nur eine Zigarette, 250 g Butter oder Margarine kosteten 600 DM. Es gab auf den Karten immer weniger Kalorien. Für Brot stand man Schlange und stundenlang vor der Bäckerei. Es gab knätschiges Maisbrot, es schmeckte uns, wir hatten ja immer großen Hunger.

 

 

 

Wir gingen „organisieren“, bei den Bauern bis hin in den Westerwald. Ja, wir bettelten um eine Kartoffel. 10 Pfund Kartoffeln waren schon ein kleines Vermögen. Bekam ich in Baleroth mal einen Liter Milch, war das ein großer Gewinn. Betteln um Nahrung war nicht schön. Die Bauern waren die Herren. Selbst Eheringe wurden für Lebensmittel verscherbelt. Welche Freude war es dann für uns, wenn Mama am Wochenende mit einem vollen Koffer Lebensmittel aus Godesberg kam. Ich glaube, es war für uns immer wieder wie Weihnachten. In der Schule gab es dann noch die Schulspeisung. In der Pause gab es eine Suppe. Ich mochte die Schulspeisung sehr gerne. Im heutigen Theater am Park war die Küche für die Schulspeisung untergebracht. Der Koch, Herr Wedewart, war unser Freund, mein Freund Hans Jäger und ich hielten guten Kontakt. Oft füllte er unser Kochgeschirr noch mit restlicher Suppe, wenn wir auf dem Heimweg waren.

 

 

 

Ähren wurden gesammelt, getrocknet und zu Mehl vermahlen, in einer Kaffeemühle. Bucheckern wurden gesammelt und für Öl abgegeben. Kartoffeln wurden nachgehackt, Zuckerrübenschnitzel gesammelt und für Rübenkraut gekocht. Nahrung und Heizmaterial waren knapp und wir holzten u. a. den Boxberg ab. Brikettwaggons wurden angegriffen und geplündert. Bis nach Hannover fuhr auch mein Bruder, um Kartoffeln zu holen. Tauschobjekte waren Zigaretten. Es wurde ein armes Weihnachtsfest 1946.