Walter Hövel

Begegnungen mit Paul le Bohec
Drückt aus was euch beeindruckt

Auf meiner ersten Freinet-Fortbildungswoche
1982 begegnete mir Paul le Bohec zum ersten Mal. Ich sollte ihm noch dreimal in meinem Leben begegnen.
1982 war ich 33 Jahre alt und fühlte mich als junger Lehrer. Ich war von meinem damaligen Hauptschulleiter „gezwungen“ worden an einer fünftägigen Fortbildung der Freinetpädagogik in Bonn teilzunehmen. Teil zur Abmachung meiner Arbeit an seiner Schule in Köln war, dass ich zugesagt hatte, an Fortbildungsveranstalten der Freinetleute teilzunehmen.
So traf ich ihn. Paul le Bohec kam mir von seinem Aussehen wie ein alter Mann vor. Er war schon pensioniert. Seine Art aber war jungenhaft, frisch, frech, aber dennoch abgeklärt.
Mich machte es sehr stutzig, dass er nicht mit uns konkret arbeitete, sondern mit uns an einem Tisch saß und mit uns redete. Er half mir zu begreifen, dass nicht die Form den Inhalt macht, sondern der offene freie Inhalt die Form.
Er sprach französisch, wurde übersetzt und er tat scheinbar nicht mehr als von seiner Zeit als Lehrerund seiner Arbeit mit Kindern zu erzählen.
Ich begriff in seinen angebotenen Arbeitsgruppen, dass ihm mindestens drei Dinge wichtig waren: Er nahm Kinder ernst so wie sie waren und erwartete verdammt viel von ihnen. Er benutzte die Kraft ihres eigenen Ausdrucks und der Gruppe, die sie bilden, damit sie selber lernten. Er überließ es ihnen in einem Gebiet wie Mathematik den eigenen Weg ihres Denkens und Arbeitens durch eigene mathematische Erfindungen zu finden.
Er erzählte von seiner Nähe zu Elise Freinet und seiner Distanz zum Meister Célestin Freinet. Er erzählte, dass die Begegnung mit ihm, ihn selbst den Tod des eigenen Vaters verarbeiten ließ.
Er erzählte wie er dokumentierte, die Kinder herausforderte das eigene Schaffen zu verstehen, zu kooperieren. Er wurde sehr psychologisch um zu interpretieren und zu verstehen, was die Kinder da machten.
Er erklärte uns was die Kinder da gezeichnet hatten[1], was es mit ihren täglichen Leben, ihren Wünschen und Träumen, ihrer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu tun hatte. Er zeigte uns, was sie dazu schrieben, dazu sangen oder schwiegen. Er erzählte von ihren Entwicklungen in der (Lern-) Zeit mit ihm.
Er erzählte wie sie selber Mathematik (wieder) erfanden[2], wie er sie das –allerdings frontal, teilweise an der Tafel – interpretieren, erklären ließ, was sie von anderen sahen. Er ließ sie eigene Wahrnehmungen machen, eigene Theorien entwickeln und Gesetzmäßigkeiten finden.
Er erzählte wie er zuhause Erfindungen versuchte zu verstehen, um sie zur gemeinsamen Bearbeitung auszusuchen.
Er erzählte über die Notwendigkeit der Gesundheit der Lehrer oder über seine Angst vor der Gewalt anderer Kinder, die er selbst als Kind erfahren hatte. Er habe immer an der Frage der Würde der Kinder arbeiten wollen. Er wollte immer, dass Kindheit und das Lernen friedlich und demokratischer werden.
Plötzlich schwenkte er über zu seinen Zuhörern. Er sagte „die beiden z.B.“, und nahm meinen Schulleiter und mich, „der eine will etwas von dem anderen. Er will ihn in Erneuerung installieren. Der andere ist ein Himmelsstürmer. Er lässt sich nichts sagen und macht eh was er will“.
Dann ging er wieder zur Biografie eines Kindes, dann wieder zur eigenen.
Dann sprach er wieder über die Freinetpädagogik, die Bedeutung von Demokratie, Zusammenarbeit, von Authentität, Lernen ohne Zwang und dem Aufbau der Arbeitseiner Klassen.
Und zwischendurch sagte er Dinge wie: "Sich selbst beobachten, ist das klug? Ja, gut, einverstanden." Oder: „Man lehrt, was man wird“.
Der Mann hatte mich beeindruckt, mehr beeindruckt als ich damals vielleicht zugeben wollte.
Vieles von dem, was ich damals tat, machte ich von da an wie ich glaubte Paul es erklärt hatte oder er es machen würde.
Die Pädagogik-Kooperative der Freinetmenschen veröffentlichte in den nächsten Jahren jene zwei Gebiete, die er vorgestellt hatte als Bücher. Andere wurden nie übersetzt.
Auch andere von mir geschätzte Menschen wie Hartmut Glänzel, der Vorsitzende der Bremer Freinets, erinnert sich an Ähnliches bei dieser ersten Begegnung in Bonn-Bad Godesberg: „Alle drei Veranstaltungen haben mich nachhaltig beeindruckt und meine Entwicklung innerhalb der Freinet-Pädagogik stark geprägt…. Obwohl ich kein Französisch konnte, habe ich viele Beiträge von Paul besser verstanden als die Übersetzerin….Ich hatte das Gefühl seine Aussagen völlig verstanden zu haben….Seit Bad Godesberg hat mich Paul nicht mehr losgelassen.“
Für Hartmut Glänzel ist die wichtigste Passage in „Patricks Zeichnungen zu finden. In seinem Nachwort schreibt er: „Die Vision einer Psychotherapie für das Volk… um ins seelische Gleichgewicht zu kommen…braucht nur einen bestimmten Rahmen, in dem sich freier Ausdruck entfalten kann… zur Schaffung und Aufrechterhaltung…können LehrerInnen einiges beitragen…“

Paul le Bohec auf internationalen Treffen und in der Literatur
Ich sah ihn wieder auf dem internationalen Freinettreffen in Finnland. Er bot die „méthode naturelle“ als Arbeitsgruppe an. Hier wurde ohne Lehrbuch, Lehrgang, ohne Finnischlehrer oder Medien nach der eigenen Fasson gelernt. Der einzige teilnehmende Finnisch sprechende Mensch durfte nicht lehren. Sein „Job“ bestand nur darin zu sagen, ob die finnischen Erfindungen der Teilnehmenden Finnisch waren. Und sie lernten Finnisch.
Ich selbst nahm an einem anderen „Atelier“ teil. Später wiederholte ich Pauls Methode als Fortbildungen. Wir lernten Niederländisch und Italienisch, komponierten einen Spaziergang zu Musik oder wir machten Experimente um die Zeit zu erfahren. Mit den Kindern meiner Klasse machte ich Matheerfindungen. Wir erweiterten dies um eine Korrespondenz mit einer niederländischen Klasse, mit denen wir Erfindungen austauschten[3].
So lernten ich Englisch in der Gesamtschule[4]. Später inkludierte ich die Méthode Naturelle, die Kooperation, das Lernen mit Fragen und Versuchen, das Lernen durch den eigenen Ausdruck, das Aufgeben von der Inhaltsvorgabe für Kinder … alles was ich von oder durch Paul gelernt hatte … in das Lernkonzept der Grundschule Harmonie[5]. Wir erweiterten es durch die Abschaffung des Unterrichts, die Fragen zur Welt, die Kinderuni oder die Lernkooperation mit und in der Region.

Als Paul in einer italienischen Übersetzung las, was ich z.B. in Englisch gemacht hatte, schimpfte er über die „Imperialisierung“ seiner Gedanken. Dann jedoch schrieb er auf, dass so Ideen übernommen, verändert und Neues realisiert wird.[6]:
„Es ist zweifellos die allgemeine Theorie der Methode, die ihn verführt haben muss. Was er tut, entspricht jedoch nicht meiner Ursprungsidee. Von der Idee besessen, hat er sie beherrscht, domestiziert, mit Beschlag besetzt, damit sie seinen eigenen Bedürfnissen dient.
ICH blieb näher an der Theorie des Fremdsprachenerwerbs. Allerdings hatte ich weniger Zeit für die praktische Realisierung. Und, ich ignorierte total, was nach dem Einstieg passieren konnte. Es ist mir passiert, dass ich beim Gebären einer neuen Idee mitwirkte, aber ich habe nicht darauf geachtet, was das für Folgen hat. …
Und Walter, er hat meine so reine Methode umgangen!... Er hat von vorne herein Englisch durch seine Schüler kreieren lassen. Das, ja, das war gut. Aber sie (sie und er) haben festgestellt, dass Englisch mindestens auf dem Gebiet des Vokabulars in ihrer Umgebung existierte. Es war sogar ein Teil ihres Alltagslebens, in der Bekleidung, bei den Reisen, der Nahrung, den Publikationen,.... Dieses voreilige Hineinstürzen, sich einlassen auf die Realität hat mich zuerst enttäuscht. (Allerdings bin ich gegenüber dem objektiv konkret Praktischen allergisch.) Beinahe hätte ich "Skandal", "missbräuchliche Entfremdung" geschrien. Denn ich sehe diesen Vorgang des Lernens von Sprachen nach der "Natürlichen Methode" eher als Wieder-Erschaffung", als "Wieder- Erfindung" der Sprache. Bei mir stehen der persönliche Ausdruck, die Inhalte, das Gefühlsgedächtnis, die Verhältnisse, die Beziehungen in der Gruppe, die Kultur selbst mehr im Mittelpunkt. Das musste übrigens auch bei Walter und seinen Schülern existiert haben, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. Aber sie zielen eher auf eine praktische, sofortige Anwendung der Sprache hin. …
Ist nicht schon die Tatsache, dass sie ein Jahr durchgehalten haben wunderbar, trotz der Schwierigkeiten, die man seitens der Eltern und der Verwaltung ahnt...und auch angesichts der Ungewissheit, der Angst vor dem Erfolg. Es handelte sich nicht um einen Versuch an ein paar halben Tagen, sondern sie arbeiteten mit Walter, wie auch bei Dietlinde, ein ganzes Jahr. Welch eine Kühnheit, welch ein Mut, und, es hat auch noch funktioniert. Am Ende des Jahres wussten die Kinder von Walter im schlechtesten Fall genau so viel wie die anderen. Aber, das entscheidende ist, sie hatten in dieser Zeit anders gelebt! …
Anscheinend kann man, durch alles was oben gesagt wurde, auf ein wichtiges Element der Freinetpädagogik hinweisen. Weil wir menschliche Lebewesen sind, die in Gemeinschaften leben, werden wir von Natur aus von Ideen besessen. Aber besteht nicht die Arbeit eines jeden von uns allen darin, sich dieser Ideen zu bemächtigen, sie zu bezwingen, und sie in seinen eigenen und den Dienst der menschlichen Gemeinschaft zu stellen?“

Besuch bei Paul le Bohec Zuhause
Um 1990 machte mir Jochen Hering, mit dem ich das Buch „Immer noch der Zeit voraus“[7] schrieb, den Vorschlag, mit Paul in seinem Zuhause in Rennes in der Bretagne ein Interview zu machen. Wir fuhren hin. Paul empfing uns. Da seine Frau Jeannette nicht da war entschuldigte er sich, dass es keinen Tee gab, da er nicht wisse, wie er zubereitet wird.
Das Interview begann. Bald stellten wir andere Fragen als vorbereitet. Nach einiger Zeit unterbrach Jochen und fragte mich; „Kriegst du eigentlich mit, dass du seit gut einer halben Stunde keine Übersetzung mehr bekommst. Du redest aber mit Paul.“ Ich konnte kein Französisch und natürlich verstand ich ihn ab da viel schwerer und brauchte wieder die Übersetzung.
Als wir später das deskribierte Manuskript von dem, was Paul gesagt hatte lasen, stellten wir fest, dass es unbrauchbar war. Irgendwie hatte der übersetzte Text wenig mit dem zu tun, was wir beide bei Paul gehört hatten und, er sicherlich gesagt und gemeint hatte. Ich ging hin und übersetzte die Übersetzung zu dem, was wir von Paul verstanden hatten. Und so kam er in das Buch[8].
Er vermittelte die für ihn vier wesentlichen Aspekte der Freinet-Pädagogik, den kreativen Ausdruck, die Kommunikation, die Klassengemeinschaft und die Erkundung der Umwelt. Er schilderte, wie er über die Erkundung der Welt begann sich mehr und mehr für die „innere Welt“ des Kindes zu interessieren. Für ihn wurde der eigene Ausdruck, der kreative Ausdruck, das Wichtigste. Er wurde zum Repräsentant dieser Richtung.
Er beschrieb auch schon damals die Wichtigkeit des eigenen Weges, der Fortführung der Ideen anderer als Veränderung dieser. Laut Paul hatte Freinet das Lernen sehr am Alltag orientiert, seine Mathematik zum Beispiel hat er aus dem Kaufmannsladen geholt. Paul hat seine Vorstellungen von Mathematik aus dem Spiel, der Fantasie und den Strukturen entwickelt.
Das Ehepaar Freinet (ich selbst vertrete die These, dass gelungene Pädagogik oft von Paaren gemacht wird) hatte für ihn eine dialogische Beziehung, die sich ergänzte, aber auch Opposition entstehen ließ. Und weil es diese Aspekte gab, so Paul, wuchs Freinet-Pädagogik weiter, komplementär und kontradiktionär.
Und er sprach über die Sprache, was mich begeisterte. Ich konnte an das anknüpfen, was ich über Psycholinguistik, über Wygotsky, Rubinstein, Leontiev oder Galperin gelernt hatte. Später glaubte ich so Dinge bei Maturana, von Foerster, Popper oder Watzlawick zu verstehen. So begeisterten mich immer eine Pina Bausch, ein Augusto Boal die Bildsprache des Surrealismus bei Max Ernst.
Seine Worte brannten sich bei mir ein: „Wenn man sich zu früh mit der Organisation der Klasse und diesen Dingen beschäftigt, dann hat man eine technische Sprache. Nur diese funktionelle Sprache wird dann gefördert. Die anderen Dimensionen der Sprache, die wissenschaftliche Sprache (die sagt, wie die objektive Welt ist), der subjektive Ausdruck (Was gefällt mir? Und warum?), die Welt der Kommunikation, der Verständigung, die Dimension der Überzeugung durch Sprache (Rhetorik), werden dann darüber vernachlässigt. Die Sprache der Kinder bleibt zu gebrauchsmäßig.
Ich sage, dass die Sprache das Wichtigste ist. Die Kinder haben das Recht, sich auszudrücken. Sie haben das Recht auf das Wort, sie formulieren ihre Worte. Das braucht am Anfang Zeit, und das kann man nicht auf morgen verschieben. … Damit fängt bei mir alles an, das ist bei mir zu Beginn das Politische, der kreative Ausdruck, im Gesang und in der Mathematik, in der Arbeit mit dem Körper und der Bewegung und in der Arbeit mit freien Texten. Zunächst müssen die Kinder ihre Sprache finden können. Und gerade heute ist es wichtig wie nie zuvor, dass die Kinder sich frei ausdrücken können.“

Zu heutigen Medienwelt hielt er fest: „Computer ist immer ein Ersatz. Die Maschine ist eine Krücke zwischen einem Individuum und dem anderen. Die direkte Kommunikation, das ist wichtig. Die Kinder sind allein, abgetrennt von der Welt, sie sind abgetrennt von ihren Großeltern, von ihren Cousinen, selbst von ihren Eltern sind sie getrennt. Und da stellt man nun eine Maschine hin, damit sie mit anderen korrespondieren. Das ist vielleicht besser als nichts, aber es ist eben nicht die persönliche Kommunikation. Ich habe dreißig Jahre lang die Erfahrung gemacht, dass durch die direkte Begegnung Intensität entsteht.“
Und seine Gedanken formulierten, dass „die meisten Kinder keine Chance mehr haben, Kinder zu sein. Und deshalb ist es wichtig, dass die Lehrerinnen wieder zu Kindern werden. Nein, nein, nicht so, wie das vielleicht klingt. Die Lehrerinnen sollen nicht wieder Kinder werden, sondern sie sollen die Freuden der Kinder „neu“ lernen, zu spielen, zu singen, mit Dingen zu arbeiten.“
Über Lehrerinnen und Lehrer sagte er u.a.: „Ich habe den Eindruck, dass zwar viele Lehrer mit den Techniken arbeiten, aber nicht unbedingt mit den Kindern. Und dazu muss man mehr als bisher die Theorie studieren, man muss sie in seine Seele aufnehmen, und man muss wissen, warum man die Dinge so macht, wie man sie macht.
In seinem Buch „Verstehen heißt wieder erfinden“ sagte er: „Bei jedem geplanten Schritt muss ein Lehrer sehr vorsichtig sein. Er sollte wissen, dass, wenn er zu forsch vorgeht, die Kinder in seine Welt hinüberzieht und sie gefangen nimmt. Er lenkt sie dann von seinen eigenen Wegen ab. Dann geht es nicht mehr um die Angelegenheiten der Kinder, sondern um seine eigenen. Er enteignet sie und betrachtet sie als sein Eigentum. Anstatt die Kinder auf des Lehrers Gebiet zu drängen, ist es besser, sie ihre eigenen erforschen zu lassen. Sie entsprechen eher ihrer Realität“
Ein weiterer großer Fehler“,
so Paul le Bohec, „ein großes Missverständnis, ist der Unterricht, der nur die Entwicklung des Individuums sieht. Die Bedeutung der Gruppe wird übersehen. Wissenschaftlich zu denken, Hypothesen aufzustellen, Kritik zu üben, Voraussetzungen zu hinterfragen, Positionen gegeneinanderzustellen, das lernt man in der Gruppe. Aber es gibt sehr wenige, die in diesem Sinne arbeiten.“
Es gelang ihm, viel mehr als Jahre zuvor, mich zu „infiltrieren“, oder ich konnte ihn jetzt schon besser verstehen. Er gab mir aber auch die Bestätigung meiner Kraft eigene Wege, zwar horchend, wahrnehmend und forschend, aber vor allem eigen-sinnig lernend zu gehen.
Meine Sprache konnte mit Pauls Hilfe erweitert werden. Ich begriff, dass das was ich da tat so viel mit freiem Ausdruck, Tasten, Fragen und Versuchen, der natürlichen Methode des Lernens, der Kooperation und Kommunikation, der Begegnung mit Welt und der Notwendigkeit von Demokratie zu tun hatte.
Meine Auffassung von Psychologie als etwas nicht Ablösbares von Geschichte, Geschichten, Sprache, Politik und menschlichem Handeln wuchs.

Paul le Bohecs Besuch der Grundschule Harmonie
Im zweiten Jahr der Existenz der Grundschule Harmonie kam Paul 1987 zu Besuch. Er ging von Klasse zu Klasse, von Raum zu Raum und nickte.
Welch eine Kraft er uns und mir gab für diesen Weg, den wir noch fast 20 Jahre lang lernend in „Harmonie“ fortsetzen konnten.
Als er aber den Raum „meiner“ Klasse, der „Himmelskinder“ betrat, begann er wieder zu schimpfen. Er schimpfte auf Französisch, aber wieder verständlich, über das Ab- und Nach-Gekritzel der Kinder, mischte sich unter sie und zeigte ihnen, wie „mit Mühe gekritzelt“[9] wird. Es war eine Freude zu sehen, wie er auf die Kinder zuging, sie in seinen Bann zog, - wie er uns inspirierte und animierte. Und seine Kultur der Kinder eigenen Zeichnung um das „auszudrücken was einen beeindruckt“ war nachhaltig verankert.
Es blieben mehr als die kleinen Zettelchen auf die Kinder ihre „Fragen zur Welt“ oder ihre mathematischen Erfindungen schrieben.
Er verankerte nicht nur sich in unserer Schule, sondern die Schule durch und mit seinem Denken.
Er war einer jener Menschen, die mich immer weder an die Stelle bringen, dass ich nicht weiß, ob ich die neueste Erkenntnis, das neueste Handeln von ihm, meiner Frau, einer Kollegin, einem Kind, einer Situation, einem gehörten oder gelesenen Satz oder von mir selbst habe.
Über Schule generell sagte er: „Die Schule sollte in unserer neurotischen Gesellschaft mehr denn je der Ort sein, an dem das akzeptiert und angenommen wird, was wo anders verboten ist. Sie könnte zur Wiederherstellung des Gleichgewichts helfen.“ Wir fühlten uns mehr als bestätigt!
Er blieb einige Tage in Uschis[10] und meiner Wohnungen damals direkt neben der Schule. Eines Abends gingen meine damalige Konrektorin Marion König, die fließend Französisch sprach und auch Uschi, die mit Französisch ganz gut zurechtkam, weg. Ich war drei Stunden alleine mit Paul. Wir unterhielten uns. Er sprach nur Französisch und Bretonisch, ich nur Kölsch, Deutsch und Englisch. Wir unterhielten uns die drei Stunden ohne eine Pause über „Lesen durch Schreiben“, das natürliche Lernen und darüber „Warum die französische Sprache aufgrund ihrer Schreibung eine Übertragung nicht zuließe“. Wieder verstanden wir uns in selbst gemachter esperantoähnlicher Sprache in unserer Pädagogik, in unserer Verschiedenheit und unserer Verwandtschaft.
Es war wie meine ganze Begegnung mit Paul. Wir waren nie sprachlos, beide von den Sprachwissenschaften gefesselt, vielleicht in einem Klangraum, vielleicht schauten wir durch das gleiche Zeitfenster.
Wir redeten kaum 40 Stunden mit einander. Aber bei mir wirkte dies mehr als 40 Jahre lang.
Paul le Bohec, aus einer älteren Form des Internationalismus kommend, zeigt mir, dass die Zukunft unserer Gesellschaften die eines globalen grenzenlosen Gesprächs zwischen Menschen ist. Menschen brauchen dies um sich zu Menschen zu entwickeln.

2009 starb Paul le Bohec
Anlässlich einer Paul Le Bohec – Gedenkfeier schrieb Hartmut Glänzel: „Wenn ich mich zurück erinnere, fällt mir eine erste Begegnung mit Paul 1982 ein ... Ich hatte gleich den Eindruck, das (Les dessin de Patrick) müsste etwas Entscheidendes sein und habe es sofort gekauft ... Mit der deutschen Übersetzung habe ich dann auch erstmal so richtig verstanden, was freier Ausdruck wirklich ist und welche Sprengkraft in ihm steckt, wenn man ihn denn zulässt … Als es um 1990 schon vielfältige Kontakte zu Paul gab, tauchte in Deutschland ein dickes Manuskript von Paul zur Mathematik auf. Für einige Mathematiker unter uns war sofort klar. Das müssen wir übersetzen und herausgeben. Wenn wir gewusst hätten, welche Arbeit das ganze bedeutet, hätten wir wahrscheinlich gar nicht angefangen. Aber mit vereinten Kräften und in Bestätigung von Pauls These, dass die Gruppe von der Unterschiedlichkeit ihrer Teilnehmer profitiert, haben wir es geschafft. So kam es, dass das Buch „Natürlich Methode und Mathematik“ zuerst als deutsche Übersetzung herausgekommen ist. Seitdem war Paul in Deutschland ein viel begehrter Gast. So z.B. auf dem Symposion in Kassel zum hundertjährigen Geburtstag von Célestin Freinet und einem Treffen in der Lernwerkstatt an der TU Berlin, als das erste Mal der Versuch unternommen worden ist, Vertreter des offenen Unterrichts in der Englisch-Amerikanischen Tradition mit Vertretern der Freinet-Pädagogik miteinander in Kontakt zu bringen.
Ohne Paul hätten wir uns in Deutschland sicher nicht in dieser Intensität mit der natürlichen Methode beschäftigt. Ohne Paul hätte es insbesondere diesen Schub zur Veränderung des Mathematik-Unterrichts nicht gegeben.“
Walter Hövel schrieb: „Paul le Bohec war ein Denker, und einer, der handelte, nicht zögerte, bremste, sondern aufforderte, antrieb, Mut machte eigene Wege zu gehen. Er wandte sich immer Neuem und Neuen zu, hörte aufmerksam zu, erkannte den Wert des Gesagten oder Erfahrenen, auch wenn er anderer Meinung war oder sein wollte. Er dachte quer, tief und weiter!
Er hat der Freinetpädagogik ein Stück des neuen Weges nach Célestin und Elise Freinet gezeigt. Er gehört zu denen, die Freinetpädagogik weiter gedacht und verhandelt haben, so dass diese Pädagogik nicht in der eigenen Rezeptur stecken blieb, sondern heute als weiter entwickelte praktizierte „Moderne Schule“ existiert. Er … trieb die Abhebung der Mathematik von ihrer eigenen Verschulung voran, … und arbeitete an einer „Psychologie der Freinetpädagogik“.

Literatur:   

Walter Hövel, "Freie Arbeit im Englischunterricht, zur Entwicklung reformpädagogischer Ansätze", Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis, Heft 2 /1989 u. Jahresheft 1990

Walter Hövel. Methode Naturelle in Englisch. In: Fragen und Versuche 54/1990                                                                                                                                                                                           

Paul Le Bohec und Michèle Le Guillou. Patricks Zeichnungen. Erfahrungen mit der therapeutischen Wirkung des freien Ausdrucks. Bremen 1993. Vollständiger Download des Buches: http://freinet-kooperative.de/wp-content/uploads/2014/11/Patriks-Zeichnungen.pdf

Paul le Bohec. Natürliche Methode oder tastendes Versuchen. In: Fragen und Versuche 77/1996

Paul Le Bohec. Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik. Bremen 1997. Vollständiger Download des Buches: http://freinet-kooperative.de/wp-content/uploads/2014/11/Verst_heisst_Wiederf.pdf und die Entstehungsgeschichte: http://www.freinet.paed.com/news/load.php?name=Content&pa=showpage&pid=5

Verschiedene Aufsätze von und über Paul le Bohec. In: Fragen und Versuche 93/2000

Walter Hövel. Nachruf. In: Fragen und Versuche 127/2009

Hartmut Glänzel. Hommage für Paul le Bohec. Manuskript 2010

Peter Schütz. Paul le Bohec über Célestin und Elise Freinet und seinen eigenen Weg in die Freinet-Bewegung. In: Fragen und Versuche 128/2009

Paul le Bohec. Patrick der Linkshänder und sein Schriftspracherwerb. In: Fragen und Versuche 134/2010

Unbekannter Autor. „Man lehrt das, was man wird“. In: Fragen und Versuche 150/2014

 

 



[1] Paul Le Bohec und Michèle Le Guillou. Patricks Zeichnungen. Erfahrungen mit der therapeutischen Wirkung des freien Ausdrucks. Bremen 1993

[2] Paul Le Bohec. Verstehen heißt Wiedererfinden. Natürliche Methode und Mathematik. Bremen 1997.

[3] Hanneke van Diggelen,  Levend rekenen in de Klas / Ee + ee = 4 (eine Korrespondenz über Mathematikerfindungen zwischen einer niederländischen und einer  Klasse der Grundschule Harmonie), In:
Levend rekenen, da’s pas realistisch, Instituut voor leerplanontwikkeling, SLO, Enschede/NL 1998

[4] Walter Hövel. Methode Naturelle in Englisch. In: Fragen und Versuche 54/1990                                                                                                                                                                                          

[5] Viele Artikel sind unter www.walter-hoevel.de zu finden

[6] Paul le Bohec. Wie wir von den Ideen anderer lernen.In: Fragen und Versuche 93/2000

[7] Walter Hövel, Jochen Hering. Immer noch der Zeit voraus“. Bremen 1996. Vollständiger Download des Buches: http://www.fb12.uni-bremen.de/fileadmin/Arbeitsgebiete/deutsch/Werke/Immer_noch_der_Zeit_voraus.pdf

[8] Ebenda, Seite 132 ff.

[9] Mit Mühe kritzeln. In: Fragen und Versuche 93/2000

[10] Uschi Resch ist heute Schulrätin im Bergischen Kreis in NRW/Deutschland/EU