Walter Hövel

„Was ist Lernen“

Ein Gespräch mit Kindern der Grundschule Harmonie

 

Jana, Leon, Elvira, Laura, Marcel, Pascal und Daniel, Kinder aus verschiedenen Klassen, sieben bis zehn Jahre alt, waren der Einladung gefolgt, um mit mir über das Lernen zu reden. Alle folgenden wörtlichen Reden sind von den Kindern. Mehr konnte ich nicht mitschreiben.

 

„Jeder Mensch lernt anders“, war der allererste Satz von Leon.

 

Viele Sätze von allen folgen. „Lernen ist etwas, was man für sich selbst tut.“ -  „Überhaupt etwas tun ist lernen!“ - „Lernen ist Nachdenken.“ – „Man lernt nicht beim Abschreiben.“ – „Eher lernst du beim Schreiben.“

 

Auf einen Einwurf von mir, unterhalten wir uns über das Abschreiben der Mönche im Mittelalter und denken über einen möglichen Sinn von Abschreiben nach. Jana beschließt diesen Ausflug mit der Bemerkung, dass Frauen im Mittelalter gar nicht Schreiben lernen durften. Wenn sie es doch wollten, mussten sie ins Kloster. Da durften sie dann Lesen und Schreiben lernen.

 

Von dort kommen wir auf das Rechtschreiben-Lernen“ „Ja, das ist Lernen!“ Ich halte ihnen einen Zettel hin, auf den habe ich geschrieben „Tu toov!“. Sie gucken kritisch fragend. „Da steht: Du Doof!“ „Ach ja“, sagt Jana, es gibt zwei Arten von  Lernen, in der Schule und das sonst!“ – „Und bei dem sonst lerne ich dann mehr, also, wenn ich rauskriege, dass da ‚Du Doof!’ steht.“

 

„Lernen ist Dazu-Lernen“ – „Das bessere Lernen sind Knobelaufgaben, tüfteln, etwas rausbekommen, wenn es immer weiter geht, das ist Lernen!“ – „Du lernst nicht unbedingt in der Schule, woanders lernst du auch, z.B. in Afrika, ohne Schule.“ „Ja, im Wald kannst du klettern lernen!“ – „Man kann nicht weiterkommen ohne zu lernen.“ – „Du lernst immer, du kannst ja nie alles wissen.“ – „Auch ohne Lernen lernt man immer weiter:“ - „Lernen ist nicht unbedingt in der Schule, und auch nicht nur Zuhause. Du setzt dich einfach auf eine Wiese und guckst einem Vogel am Himmel zu oder guckst dir ein Blatt an – und du lernst!“ – „Egal was du machst, du lernst immer – egal was.“ – „Du hast etwas kennen gelernt!“ – „Du lernst jede Minisekunde, auch wenn du nicht willst.“ – „Auch wenn du nicht lernen willst, du musst lernen.“

Ich bitte sie sich eine Geschichte anzuhören. Sie willigen ein.  Ich erzähle von Kaiser Friedrich II, der glaubte, dass alle Menschen eine Ursprache in sich hätten und sie ab einem bestimmten Alter sprechen könnten, ohne sie gelernt zu haben. Er gab Kinder zu Ammen, die sie nur säugten, aber nicht mit ihnen sprachen. Leon fiel mir ins Wort und sagte: „Und alle Kinder starben, das hat uns schon der Marc, unser Klassenlehrer, erzählt. Um zu leben muss man lernen, mit Liebe, mit anderen Menschen, sonst klappt das nicht.“ Im Stakkato folgten mehrere Sätze von mehreren Kindern: „Lernen braucht Gesellschaft!“ – „Lernen braucht Menschen, die mit einem spielen!“ – „Lernen braucht Sprechen!“ – „Lernen braucht Verständigen!“ – „Lernen braucht Zusammen-etwas-machen!“ - „Lernen ist von Menschen lernen.“ - „Ohne Lernen stirbst du!“ -  „Du kannst lernen zu lernen!“

 

Ich frage, warum sie in die Schule gehen? „Aus Spaß!“ - „Es wäre besser ohne Schule?“ -  „Schule kann ab-lernen sein!“ Ich frage: ‚Wie lernst du denn selber zu lernen?’ Marcel ruft: “Anfangen – drin sein – nicht aufhören!“ „Sich selber was ausdenken!“ „Wenn andere einem sagen, was man lernen soll, kann das sein wie Kakao mit Schneckenschleim trinken müssen.“

Ich frage weiter: „Wer von euch kann denn schon selber lernen?“ Nur zwei Ja, aber vier Nein und ein Vielleicht. Ich sage ihnen lachend, dass mich die Antwort irritieren könnte. Ich frage sie einzeln, an welchem Thema sie gerade arbeiten, ob sie das Thema selbst gewählt haben, etc. Jetzt antwortet ein Kind nach dem anderen lächelnd, dass es natürlich selber lernt. Wahrscheinlich bezog sich ihre erste Antwort auf ihre Entwicklung. Die trauen sich noch mehr zu!

Leon erinnert sich, als er vor etwa zwei Jahren, kapierte, wie er selbst lernen kann: „Ich habe immer gesagt, dass mir nichts einfällt, beim Schreiben. Bis ich dann das Schreiben der Warum-Frage-Texte und der Ich-sehe-Texte entdeckt habe. Jetzt weiß ich, wie das bei mir geht“ „Ja, ja, man braucht Einfälle!“ – „Und Interesse!“ Ich erkläre, dass Interesse aus dem Lateinischen kommt und ‚zwischen, dazwischen sein’ ‚ heißt. Ich erinnere sie an andere Wörter mit ‚inter’ und übersetze sie; Interview, Internet, Intervall, international, bis Inter Mailand. Sie folgern: „Lernen ist einer Sache näher kommen.“ - „Oder einem Menschen näher kommen.“ – „Ja, ja, ich lerne.“

 

Ich frage was beim Lernen im Körper passiert. „Irgendein’ Scheiß macht der Körper und dann hat er was gelernt.“ -  „Wenn einen was nervt, dann kommt hinten was raus.“ -  „Oder auch vorne.“ – „Du weißt einfach mehr als du vorher wusstest.“ – „Bei mir sag ich nur: Streng dich an Körper, und dann passiert’s.“ – „Nein, es ist das Gehirn! Je länger da was reinkommt, je mehr verzweigt sich das. Da sind feste Laufbahnen, feste Stationen. Das ist wie ein Bach, der fließt, immer in kleine Pfützen und dann wieder ein Bach und dann am Schluss ist da ein ganz großes Meer.“ – „Das kann zu Anfang auch nur ein kleiner Tropfen sein, wie die kleine Jana.“

 

Sie sind heute total gut drauf. Ich darf einen langen Vortrag über das Gehirn halten, den ganzen Körper, die Frühentwicklung des menschlichen Gehirns, seine Größe und Kapazität, die Zahl der Nerven- und Gehirnzellen, Blockaden, Nervenbahnen, Ganglien, Ultrakurz-, Kurz-und Langzeitgedächtnis, über die verschiedenen Gehirne und Gehirnteile, das limbische System, den Großhirnrinden und die Hirnanhangdrüsen... „Ja, ja, das Gehirn ist wie ein Parkhaus mit ’ner Schranke. Wenn alle Parkplätze voll sind, wird in den Gängen geparkt. Und wenn das Parkhaus zu voll ist, geht einfach die Schranke runter und das Auto, was da gerade drunter ist, hat Pech, das ist dann kaputt!“ - „Das ist dann, wenn ich keinen Bock mehr hab’“ – „Dann macht’s keinen Spaß mehr.“

 

Ich frage, wer diese Entscheidung denn auslöst. Nachdenken. „Gott!“, „Quatsch, das Gehirn ist das!“ Und du, frage ich, was hast du damit zu tun. „Ich hab dann eben genug – in dem Augenblick.“ – „Und das ist bei jedem anders“, sagt Leon, wie zu Anfang.

Meine letzte Frage ist daraufhin: ‚Was willst du tun, damit du besser lernen kannst?’ Prompt bekomme ich erst wieder Schülerantworten, aber auf einem guten Niveau: „Ich will das große 1x1 lernen.“ – „Ich will lernen Bücher zu schreiben.“ – „Ich will mehr und dickere Bücher durchkriegen.“ – „Ich will mit Betonung lesen lernen.“

 

Ich interveniere ein letztes Mal und sage: ‚Ich meine euch, euch selbst!’ „Ach so, ich will lernen meinem Gehirn Befehle zum Lernen zu geben!“ „Ich will lernen, nicht nur bei Freunden zuzuhören.“  Marcel weiß nichts. Ich lese ihm nochmals vor, was er vorher übers Lernen gesagt hatte, und er: „Klar, ich will lernen anzufangen und was zu Ende zu bringen!“  Laura weiß auch nichts. Leon: „Ich weiß, was du lernen musst, mit anderen zusammen zu arbeiten.“ „Ja“, sagt Laura, „stimmt, Teamwork!“  Pascal:  „Ich will helfen lernen. Also mehr Freunde haben, die mit mir lernen.“ Evelyn: „Ich will mir mehr vornehmen, was ich lernen will, also Ziele setzen!“ Und Jana zu erst: „Ich will auf andere hören lernen, auch wenn ich sie nicht mag.“ Denkt weiter nach und sagt: „Und ich glaube, weil ich so schnell lerne, muss ich lernen, länger an einem Stück zu lernen.“

 

Grundschule Harmonie, am 5. Dezember 2007, von 11 bis 12.30 Uhr in unserer Kinderbuchbibliothek