Walter Hövel

Ein selbstverantwortetes staatliches Modell

Grundschule Harmonie

 

 Die Grundschule Harmonie in Eitorf, einer 20.000-Seelen-Gemeinde im südöstlichen Rheinland, existiert in ihrem elften Jahr.

 

Wenn man das Gebäude betritt, taucht man sofort in ein geschäftiges Treiben von Kindern und Erwachsenen ein. Überall gehen, sitzen, hocken und liegen Menschen. Sie schreiben, reden, lesen, tanzen oder spielen, auf den Gängen, an Tischen im Forum, in allen Räumen, auch im Schulleiterzimmer, draußen an Tischen, auf der Wiese, auf Schaukeln, auf Baumstämmen, Steinen und Brücken, am Wasser oder im Sand. Sie arbeiten im Garten, spielen im Weidenlabyrinth oder sitzen mit der ganzen Klasse in einem der vielen Sitzkreise. Nicht nur draußen auch drinnen sind in allen Klassenräumen Sitzkreise aus kleinen Holzbänkchen. Kreise prägen unser Schulleben.

 

Es gibt drei entscheidende Kreisformen. Das erste sind die Kreise der Klassen[6]. Hier lernen die Kinder selbst zu planen wie, was, wo und wann und mit wem sie arbeiten. Hier stellen sie ihre Arbeitsplanung, ihre Zielsetzungen, ihre Zeitvorstellung, ihre Hilfsmittel und -quellen, ihre Arbeits- und Präsentationstechniken und ihre Kooperationspartner vor. Hier stellen sie ihre getane Arbeit vor, hier finden Vorträge statt, werden Ausstellungen eröffnet, Produkte gezeigt und Ergebnisse begutachtet. Hier wird der Wert der eigenen individuellen und gemeinschaftlichen Arbeit beschrieben, herausgefunden, gewürdigt. Hier entsteht Selbstwertgefühl, selbst verantwortete BeWertung und der Aufbau einer selbst organisierten kooperierenden Lerngruppe. Hier werden die Erfolge, die Probleme, die Fehler und die Perspektiven der gemeinsamen Arbeit und des individuellen Lernfortschritts betrachtet, gelenkt und die Regeln und Prinzipien der Arbeit von den Kindern selbst, von ihrem eigenen Kreis formuliert und immer wieder verbessert.

 

Die Lehrerin, der Lehrer, ist eine Stimme in diesem Klassenrat. Sie beraten, bringen Angebote ein, vermitteln Lehrpläne, Techniken, Methoden, ohne sich und ihre Form und Inhalte der Arbeit aufzudrängen. Die Kinder sind verantwortlich für ihr Lernen, nicht die Lehrer. Die Grundlegung des Lernens in der Grundschule bedeutet für uns, dass Kinder das lernen, was sie können und wollen: die Verantwortung für ihr eigenes Lernen, also ihr eigenes Menschsein zu übernehmen und dies zu einem lebenslangen selbst gesteuerten Lernprozess zu machen.

 

Die Erwachsenen sind für ihre eigenen Fähigkeiten verantwortlich, als erwachsene Vorbilder. Als stets fortgebildete professionelle Spezialisten sorgen sie für ein hohes ganzheitliches und schulisches Lernniveau, sie sind stets wache und aufmerksame Begleiter des empfindlichsten Teils des Lebenswegs von Menschen, die Vertrauen in das menschliche Lernen, also die „fremde Kindheit“ zu haben.

 

Der zweite Kreis ist der Kreis der Lehrerinnen und Lehrer. Jeden Morgen um 7.15 sitzen alle um den runden Tisch im Lehrerinnenzimmer. Eine nach der anderen leitet die morgendliche viertelstündige Sitzung. Hier wird alles besprochen: das Fehlen von Lehrkräften, die Aktivitäten der einzelnen Klasse, der gesamten Schule, die Extraangebote der vielen Praktikanten oder Eltern, Lehrangebote der Schülerinnen, Sing-Ins, Theatervorführungen, Gottesdienst im Forum, der Film des Vorabendprogramms des Fernsehens, die Bitte um Entlastung wegen einer Unpässlichkeit, die Fortbildung des gestrigen Tages oder wichtige Nachrichten aus dem Familienleben.

 

Jeden Montag ist Konferenz. Hier werden keine organisatorischen Dinge besprochen, nur Inhalte, die von der Lehrerin bestimmt werden, die roulierend die Sitzung leitet. Alle Kollegen haben Schulleitungsaufgaben, die eine ist zuständig für das Computernetz, die andere für die Homepage, die nächste für den Förderverein, für den Schulchor und die Flötengruppe, für die Einschulung, für die Kontakte zu den Kindergärten, den Schulgarten, die Statistiken, die auszubildenden Lehrerinnen, die Hospitanten, den Kontakt zu Universitäten und Lehrerinnenbildung, und - Alle für Alles.

 

Es gibt keinen Stundenplan, der die Schule lenkt. Eine oder zwei Kollegen sind zuständig für eine Klasse. Sie verfügen über das gesamte Stundenpotential und organisieren mit den Kindern ihren Tages-, Wochen- und Jahresablauf. Hier werden Epochen, Projekte, Angebote und Klassen übergreifendes Lernen an außerschulischen Lernorten abgesprochen. Die Kollegen reden immer mit einander. Ihre Schule ist ihre Schule. Sie verantworten, mit weit reichenden Selbstentscheidungs- und Verantwortungsmöglichkeiten selbst. Es gibt kein für alle vorgeschriebenes Konzept der Arbeit oder des „Unterrichtens“ in der Klasse, sondern die Summe der Verwirklichung der Kompetenzen aller als maximaler Konsens des Kollegiums.

 

Der dritte Kreis ist die Versammlung der gesamten Schule. Jeden Montag beginnen alle gemeinsam mit einer Versammlung im Forum. Der Schulleiter begrüßt alle und alle Geburtstage der letzten sieben Tage werden gefeiert. Alle, Kinder und Lehrer stellen vor, was in der vor uns liegenden Woche in der Schulgemeinde geschehen wird, und immer eine andere Klasse gestaltet einen Bericht über das Geschehen der letzten Schulwoche.

 

Alle 14 Tage findet eine Schulversammlung im Forum statt, deren Durchführung und das Zusammenstellen des Programms in den Händen der Kinder einer Klasse liegt. Hier werden Experimente, freie Texte, Beschlüsse des Kinderparlaments, Theaterstücke, Tänze oder Berichte von Exkursionen oder Klassenfahrten präsentiert. Wenn ein Problem anliegt kommt es auf die Tagesordnung oder es wird spontan eine Schulversammlung einberufen [7].

Die Arbeit der Kinder und Lehrer stützt sich auf folgende Grundgedanken, die in der Arbeit der letzten zehn Jahre entstanden[8]:

 

Die Kinder gestalten mit den Lehrerinnen ihr eigenes Leben, Arbeiten, Spielen und Lernen in der Schule in einer kooperativen menschlichen Atmosphäre. Jedes Kind hat das Recht auf seine eigene Lern- und Lebenszeit.

 

Der Freie Text von Anfang an, ausgehend von einem eigenen Konzept des „Lesens durch Schreiben“, ist wesentliches Element des Lernens, weit über den Sprachunterricht hinaus. Das Berichten und Vorstellen von Gefundenem und Erfundenem, von Erlebtem und Gelebtem ist Alltag von Anfang an. Das Finden eines eigenen mathematischen Weges hat immer Vorrang vor der Schuldidaktik. Jedes Kind kann seine Gleichgewichtung zwischen mathematischem Handeln, der Entwicklung von Rechenfähigkeiten und Erfindungen suchen.

 

Jede Form des Freien Ausdrucks, ob Tanz, Zeichnung, Musik, Text, Malen, Bewegung oder Theater als Mittel des selbst erfahrenden und selbst bildenden Lernens ist wichtig. Regeln werden als die Formulierung des Umgangs mit sich selbst, den anderen, dem Lernen und Leben in der Schulgemeinde auf der Grundlage gemeinsam verständigter Werte verstanden. Die Einhaltung ist Angelegenheit aller.

 

Das Vorlesen, Erzählen, oder Hören von Musik ist niemals ein Verlust an Lernzeit. Für das Experimentieren, Erforschen und Entdecken muss genügend Zeit und Raum geschaffen werden. Die Anwesenheit, Respektierung und Pflege verschiedener Sprachen prägt Toleranz und Verstehen. Alle Inhalte und Formen, die es den Kindern ermöglichen ihre Welt zu konstruieren, zu verstehen und zu verändern, müssen im täglichen Lernen präsent sein können.

 

In der Mitte der Schule ist eine Bücherei, die jederzeit für alle zugänglich ist. In jeder Klasse sind Internetanschlüsse, die jederzeit genutzt werden. Von den Kindern individuelle, oder in der Lerngruppe selbst bestimmte Themen haben zumindest die gleiche Gewichtung wie Themen der Lehrpläne oder Lehrerinnen. Einer natürlichen Methode des Lernens, bei dem Kinder ihre eigenen Lernwege gehen, ist immer der Vorrang zu geben.

 

Die Selbstbestimmung der Arbeitsvorhaben, Selbstorganisation der gemeinsamen Arbeit, wie die Regelung der hierbei auftretenden Konflikte ist Aufgabe aller und im Besonderen des regelmäßig stattfindenden Klassenrats.

 

Das Vorlesen und Veröffentlichen selbst geschriebener Texte in Dichterlesungen, im Kreis oder auf Schulversammlungen, in eigenen Zeitungen und Bücher ist elementarer Bestandteil des Schulalltags.

 

Das Lernen findet im Klassenraum, in allen Räumen der Schule, auf dem Schulgelände und außerhalb der Schule in Gemeinde und Natur statt. Jede Klasse, Kinder und Lehrerinnen gestalten ihre Klassenräume nach ihren Bedürfnissen. Die Arbeit wird gemeinsam als Tages-, Projekt- oder Wochenplan abgesprochen und in Tages- oder Wochenabschlusskreisen ausgewertet.

 

Über die Wahrnehmung der religiösen Angebote, wie Gottesdienst oder Projekte entscheiden die Kinder selbst, über die Teilnahme am Religionsunterricht die Eltern. Über die Bearbeitung religiöser Themen in allen Phasen des Lernens alleine die Kinder.  Die Formulierung, Beantwortung und Bearbeitung der „Fragen zur Welt“ durch die Kinder ist ein „Hauptfach“.

 

Es gibt ein Kinderparlament, in dem jede Klasse durch je ein Mädchen und einen Jungen vertreten wird, dessen Beschlüsse den gleichen Rang haben wie die der Lehrerinnenkonferenz oder die der Elternpflegschaft. Das Schulgelände ist als Abenteuerlandschaft gestaltet, in dem gespielt und gearbeitet wird. Alle Arbeiten können in der Schulversammlung, an allen Wänden, auf Stellwänden und in der Öffentlichkeit aus- und vorgestellt werden.

 

Die Schule kooperiert mit allen Institutionen oder Vereinen, die den Kindern als eingeladene und gewünschte Gäste oder Besuchspartner begegnen, wie Ämter, Vereine, Schulen, Künstler, Altenheime, Chöre, Universitäten, Kirchen, Theater, etc. Kinder dürfen jederzeit essen und trinken, solange es sie selbst und andere nicht stört oder bei der Arbeit behindert. Sie können jederzeit „ohne Erlaubnis“ zur Toilette und sich im Rahmen der gemeinsamen Regeln frei bewegen.

 

Eine Arbeitssequenz in meiner Klasse mit zwei Kindern der Jahrgangstufe 2, dreizehn der Stufe 3 und elf der Stufe 4, sähe nach dem Planungskreis wie folgt aus: Marc und Hannah ziehen in die Küche, sie brauchen Materialien, um ein Experiment durchzuführen, das sie in einem Sachbuch mit dem Thema „Chemie“ gefunden haben. Vanessa und Joana schreiben an ihren Texten weiter, um anschließend ein paar Runden mit dem Einrad um die Schule drehen zu können. Benni geht mit einem Vater, der einmal in der Woche für zwei Stunden in die Schule kommt, in einen freien Nebenraum. Zunächst schreiben sie gemeinsam einen Text, dann übt Benni sein neues Stück auf der Gitarre. Jasmin geht mit zwei Kindern aus anderen Klassen durch die Schule. Sie machen Interviews für einen Artikel in der Schulzeitung. Dustin sitzt im Schulleiterzimmer, er braucht viel Ruhe. Er liest in der Nibelungensage. Andre hantiert mit Pinsel, Wachsmalstiften und Farben. Er probiert einige „Maltricks“ aus, die er irgendwo gesehen hat. Philip erklärt Joel wie man im Powerpointprogramm eigene Texte mit Bildern kombiniert. Daneben sitzt Charlotte am Computer und schreibt ihren freien Text von der letzten Woche ab. Er ist als bester Text der Woche von den Kindern für die Veröffentlichung auf der Homepage ausgesucht worden. Raphael surft durchs Internet und sucht neue Informationen über Ludwig van Beethoven. Gleich wird er mit Rene und Sara in den Musikraum gehen. Er hat sich selbst die „Ode an die Freude“ auf dem Klavier beigebracht. Nun lehrt er es den anderen. Jakob ist in der Nachbarklasse. Dort baut er mit anderen Jungs mit dem Elektrokasten. Rene geht umher, er arbeitet noch nicht. Ich spreche ihn an. Thomas beschäftigt sich mit der Division mehrstelliger Zahlen, Anna erfindet Aufgaben mit eckigen und runden Klammern und baut Schwierigkeiten der Punkt- und Kommarechnung ein. Sina zeigt Tamara was er über das Wurzelziehen herausbekommen hat. Siyabend, Eduard und Anna-Lena sind mit einem Studenten, der hospitiert, zu einer nahen Autowerkstatt gegangen. Sie lassen sich erklären, wie ein Motor funktioniert. Ihr Ziel ist es einen Vortrag darüber zu halten. Jan und Fabian arbeiten am Thema „Spinnen“. Fabian liest gerade eine Seite im Netz, Jan zeichnet eine Spinne ab. Sara und Roberto sitzen in der Bibliothek und schauen sich ein englisches Lernvideo „Magical English“ an. Robin sitzt am Computer und sucht im „Leo deutsch-englisch“ Wörter, die zum Thema „City“ passen.

 

Um 10 Uhr wird es die tägliche Rechtschreibzeit von maximal einer halben Stunde geben. Alle sitzen um die Tafel herum. Heute erforschen wir gemeinsam die Schreibweise von Wörtern mit drei Buchstaben. Der Klassenrat hat beschlossen, dass es immer für eine Woche die tägliche Rechtschreibzeit, eine Woche Mathezeit und eine Woche Englisch - zur zusätzlichen wöchentlichen Doppelstunde - gibt. Dann folgt wieder das Rechtschreiben, und so weiter.

 

Danach wird es einen Kindervortrag über Pluto und Charon geben. Nach der nächsten Pause gibt es verschiedene Arbeitsgruppenangebote in der Schule, wie Schach, Tanz, Tischtennis, Golf, Flöten, Textiles oder Werken.

 

In dieser Woche wird es noch einen gemeinsamen Sportunterricht in einem von den Kindern aufgebauten Parcours geben, die wöchentliche Dichterlesung, und den Wochenabschlusskreis in der letzten halben Stunde der Woche. Hier wird berichtet, was für jeden Einzelnen in der Woche das Wichtigste, auch über die Schule hinaus, war.

 

Andere Klassen arbeiten in dieser Zeit ebenfalls an eigenen Themen und Miniprojekten. Andere machen gerade ein gemeinsames Europaprojekt, andere arbeiten mit dem „Magischen Baumhaus“ und entwickeln hieraus individuelle Projekte, drei Klassen proben in dieser Woche ein größeres Theaterstück. Hierfür gab es ein Casting. Jeder konnte einen Job in bestimmten Schauspielerrollen, als Souffleur, Bühnenbildner, Musiker, Tänzer oder Kostümschneider bekommen. Eine andere Klasse besucht gerade Fernsehstudios des WDR im nahen Köln.

 

Unsere Kinder sind in neun Klassen Jahrgangs übergreifend organisiert. Die Kinder werden in alle Klassen mit vier bis sieben „Erstklässlern“ eingeschult. Die Eltern werden vor der Einschulung in einem Informationsschreiben über die Jahrgangszusammensetzung der verschiedenen Klassen, die Teamklassen[9], die KlassenlehrerIn und möglichen Schwerpunkte der Arbeit in der Klasse, wie Musik, Sport, Englisch, Naturwissenschaften oder Theater informiert. Die Eltern können, ähnlich wie bei der Wahl von Arbeitsgruppen in Projektwochen, drei Wünsche zu ihrer Klassenwahl äußern. Einem der drei Wünsche zur Einschulung kann in der Regel Folge geleistet werden. Ist dies nicht der Fall, folgen besondere Gespräche zur Beratung der Eltern.

 

In diesen Klassen, sie heißen „Fledermäuse“, „Forscher“, „Genies“ oder „Mondscheinkinder“, gibt es keinen „Abteilungsunterricht“, also keine regelmäßige Rücktrennung der Kinder in Jahrgangslerngruppen. Die Klassen werden im Prinzip aus Kindern der Jahrgänge 1 bis 4 gebildet.[10] Aus dem offenen sich selbst organisierenden Lernen heraus bilden sich verschiedene zeitliche und inhaltliche Alters gemischte Lerngruppen. Im Anfangsunterricht bekommen die Kinder keine von den Lehrern formulierten Arbeitsaufträge, keine Arbeitsblätter, Lernprogramme oder Schulbücher. Sie lernen vom ersten Tag an ihre eigene Arbeit zu bestimmen.

 

Im Planungskreis am Morgen wird gefragt „Was tust du heute?“ Sie beginnen mit weißen Blättern, Farben, Stiften, Büchern, und wenigen Materialien wie dem Buchstabentor, Bauklötzen, Waagen, Zollstöcken, ausgesuchten Computerprogrammen, Schere, Kleber, Holz, Hämmern und Nägeln. Sie lernen zunächst also „nur“ sich für eine selbst bestimmte Arbeit zu entscheiden, diese zu Ende zu führen, sich mit anderen zu verständigen, zu verabreden, um sie im Kreis wieder vorzustellen. Dort erfahren sie was die anderen tun, wie sich andere das Schreiben und Lesen beibringen, wie sie sich die Zahlen und Größen erobern, lernen, was die „Größeren“ schon können. Wir und der Kreis begleiten sie in ihre eigene Lern-Kompetenz-Spirale.

 

Wenn bei uns nicht Pläne, Schulbücher, Klassenarbeiten, Tests, die LehrerInnen oder gar Noten, Strafen oder „Druck“ als Antriebskräfte für Leistung, Lernen und Weiterentwicklung dienen, so müssen auch bei einem selbst bestimmten und selbst verantworteten Lernen sichtbare Strukturen oder Muster für Kinder erkennbar sein. Dies ist auf der Verhaltens- und Beziehungsebene das konsequente Ernstnehmen der Kinder als selbstständige, eigenständige und einzigartige Lernerpersönlichkeiten durch die Erwachsenen, die Gestaltung eines demokratischen Alltagslebens in der Schule und der Kommunikation bis hin zu den Elternhäusern. Lernen braucht Vertrauen der Erwachsenen und der Kinder in sich selbst. Vertrauen in die grundlegende Fähigkeit des Menschen, Lernen zu können und zu wollen. Die Entwicklung der Lernaktivität braucht als elementare Voraussetzung, wenn wir den „Zwang“ eliminieren, Wohlbefinden.

 

In der letzten Dichterlesung meiner Klasse haben drei Kinder, gegen die Abmachungen im Klassenrat, keinen eigenen Text geschrieben, den sie den anderen vorlesen könnten. Es entsteht Empörung, da gerade mit diesen Kindern lange genau über dieses Problem im Klassenrat gesprochen wurde. Nach einiger Zeit ist herausgearbeitet, dass alle gerne schreiben, aber eben die Drei „keine Lust“ hatten zu schreiben. Es entsteht Ratlosigkeit.

 

So erkläre ich ihnen genau das, was ich hier beschreibe mit der Frage: „Was ist los Leute, ihr könnt schreiben, wollt es aber nicht. Schule braucht Wohlbefinden. Gibt es etwas was ihr nicht sagt und euch am Schreiben hindert?“ Dann bricht es aus ihnen hinaus: „Meine Eltern bauen ein Haus. Sie haben nur noch das Haus im Kopf. Und ich durfte noch nicht einmal Karneval feiern. Ich musste mit zur Baustelle“. Das nächste Kind: „Meine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen. Bis zum Sommer. Und wir dürfen sie vorerst noch nicht einmal besuchen“. Und last but not least: „Ich habe nur Stress mit meinen Eltern. Und jetzt zieht auch noch mein bester Freund zu seiner Mutter, dreihundert Kilometer weg!“

 

Sofort wurden Sorgengruppen eingerichtet. Kinder suchen sich Gesprächspartner aus, ziehen sich zurück und reden über eine Stunde intensiv über ihre Probleme. Sie werden wieder schreiben, trotz oder vielleicht sogar über oder gegen ihre Sorgen.

 

Wenn diese Voraussetzungen des Wohlbefindens immer wieder geschaffen und garantiert (!) sind, können Menschen sich um die gesamte Palette ihrer Lernfähigkeiten kümmern. Durch die Abfolge von kooperativer Planung, individueller und kooperativer Arbeit, durch Präsentation und Dokumentation, durch Würdigung, Evaluation und Versprachlichung der Reflektion der eigenen Arbeit begeben sich die Kinder drei bis fünf Jahre lang in eine Lernkompetenzspirale, in der das Lernenlernen gelernt wird.

 

 

Walter Hövel
Grundschule Harmonie,

 

ein selbst verantwortetes staatliches Modell

 

 

 

Die Grundschule Harmonie in Eitorf, einer 20.000-Seelen-Gemeinde im südöstlichen Rheinland, existiert in ihrem dreizehnten Jahr. Für diese Schule ist nie ein Konzept geschrieben worden, es gab keine staatlichen Förder- oder Modellprogramme, keine Elterninitiative, keine Gründungsphase, keine wissenschaftliche Beratung, keine zusätzlichen Stellen oder Mittel.

 

 

 

Es gab und gibt hervorragende Richtlinien und Lehrpläne von Seiten des Staates (1). Es gibt erfolgreiche Jahrzehnte alte und aktuelle Erfahrungen der pädagogischen Praxis aus Jenaplanschulen, Freinetklassen, dem Unterricht nach Wagenschein, von demokratischen Lern- und Menschenauffassungen eines Janus Korczak, einer Elise Freinet oder eines

 

John Deweys, und einer zu oft vergessenen Bauhauspädagogik (2).

 

 

 

Es gab und gibt für die Praxis hervorragende Zuarbeiten von Seiten der z. B. neuro-biologischen Forschung, aber auch aus der pädagogischen, von Brügelmann, Brinkmann, Gudjons, Hagstedt und vielen anderen mehr. Und im Kopf des Schulleiters gab es eine

 

Vorstellung, in der Erfahrungen der Selbstorganisation des Lernens einer Freinet-Klasse, und ganzheitliche Vorstellung von Management durch „Organisationsentwicklung“ auf eine

 

sich selbst verantwortende Schule übertragen werden sollten.(3) Und es entstand ein Kollegium, das vom Tag der Gründung an seinen eigenen Weg ging.

 

 

 

Vor dem aller ersten Schultag dieser Schule hatte das von der Schulaufsicht zusammen gewürfelte Kollegium keine Woche Zeit, ein Konzept an zu denken, geschweige denn zu

 

entwickeln. Drei Tage nach dem ersten Zusammentreffen des sich bis dahin vollkommen unbekannten Kollegiums begann die Arbeit mit 6 Klassen in einem nicht einmal zur Hälfte fertig gestellten Schulgebäude.

 

 

 

So entstand eine Schule auf ihrem eigenen Weg, geleitet von der Vorstellung alles tun zu können und zu wollen, was staatliche Mittel, inhaltliche und strukturelle Rahmen-bedingungen, eine Kommune, Eltern und die eigene Ausbildung und Einstellung zulassen, wenn nicht Be-Lehren, Unter-Richten und Ver-Schulen, sondern Lernen, Kinder als Menschen und Lebenswirklichkeit im Mittelpunkt eines Hauses des Lernens stehen.

 

 

 

Das LehrerInnenteam übernahm Verantwortung und lernte selbst zu entscheiden. Es gab einen Neubau in einem Neubaugebiet in einer ländlichen Industriegemeinde, deren wenigen besseren Jahre mit Textil- und Maschinenbauindustrie schon lange vorbei waren. Eher zieht man hier hin, weil die Grundstückspreise um einiges billiger sind als in der nahen Umgebung Kölns und Bonns, weil es immerhin einen S-Bahnanschluss und eine reizvolle landschaftliche Umgebung gibt.

 

 

 

In diese idyllische Landschaft, aber keinesfalls idyllischen Sozialgefüge, setzte ein eher ländlicher Architekt ein wunderbares Schulgebäude. Zufall oder nicht, er war in seinern Studienzeit Hugo Kükelhaus (4 ) begegnet und hatte ein Buch über den Bau von Jena-planschulen in den 50iger Jahren gelesen. Er baute einen Schulbungalow für etwa 200 Kinder mitten in eine versumpfte Wiese5, benutzte viel Glas, Holz und Stein. Er stattete jede Klasse mit einem separaten Ausgang nach Draußen aus. Einem großen Forum mit Treppen, Säulen und Licht durchflutenden Oberlichtern schließen sich zwei Flure mit Klassenräumen, einweiterer Raum mit zu öffnender Schiebewand an, eineHausmeisterloge und ein Lehrerinnenzimmer nur durch große Fenster abgetrennt an. In der Loge ist seit vielen Jahren eine von Eltern geführte Druckwerkstatt. Das Lehrerinnenzimmer ist immer offener Treffpunkt für die Gespräche von Lehrern, Eltern, Hospitanten und Kindern, und Arbeitsraum für jede Form des Lernens.

 

 

 

Wenn man das Gebäude betritt, taucht man sofort in ein geschäftiges Treiben von Kindern

 

und Erwachsenen ein. Überall gehen, sitzen, hocken und liegen Menschen. Sie schreiben,

 

reden, lesen, tanzen oder spielen, auf den Gängen, an Tischen im Forum, in allen Räumen, auch im Schulleiterzimmer, draußen an Tischen, auf der Wiese, auf Schaukeln, auf Baumstämmen, Steinen und Brücken, am Wasser oder im Sand. Sie arbeiten im Garten, spielen im Weidenlabyrinth oder sitzen mit der ganzen Klasse in einem der vielen Sitzkreise. Nicht nur draußen auch drinnen sind in allen Klassenräumen Sitzkreise aus kleinen Holzbänkchen. Kreise prägen unser Schulleben.

 

 

 

Es gibt drei entscheidende Kreisformen. Das erste sind die Kreise der Klassen6. Hier lernen die Kinder selbst zu planen wie, was, wo und wann und mit wem sie arbeiten. Hierstellen sie ihre Arbeitsplanung, ihre Zielsetzungen, ihre Zeitvorstellung, ihre Hilfsmittel und -quellen, ihre Arbeits- und Präsentationstechniken und ihre Kooperationspartner vor. Hier stellen sie ihre getane Arbeit vor, hier finden Vorträge statt, werden Ausstellungen eröffnet, Produkte gezeigt und Ergebnisse begutachtet. Hier wird der Wert der eigenenindividuellen und gemeinschaftlichen Arbeit beschrieben, herausgefunden, gewürdigt. Hierentsteht Selbstwertgefühl, selbst verantwortete BeWertung und der Aufbau einer selbstorganisierten kooperierenden Lerngruppe. Hier werden die Erfolge, die Probleme, dieFehler und die Perspektiven der gemeinsamen Arbeit und des individuellen Lernfortschritts betrachtet, gelenkt und die Regeln und Prinzipien der Arbeit von den Kindern selbst, vonihrem eigenen Kreis formuliert und immer wieder verbessert.

 

 

 

Die Lehrerin, der Lehrer, ist eine Stimme in diesem Klassenrat. Sie beraten, bringen Angebote ein, vermitteln Lehrpläne, Techniken, Methoden, ohne sich und ihre Form und Inhalte der Arbeit aufzudrängen. Die Kinder sind verantwortlich für ihr Lernen, nicht die Lehrer. Die Grundlegung des Lernens in der Grundschule bedeutet für uns, dass Kinder das lernen, was sie können und wollen: die Verantwortung für ihr eigenes Lernen, also ihr eigenes Menschsein zu übernehmen und dies zu einem lebenslangen selbst gesteuerten Lernprozess zu machen.

 

 

 

Die Erwachsenen sind für ihre eigenen Fähigkeiten verantwortlich, als erwachsenem Vorbilder. Als stets fortgebildete professionelle Spezialisten sorgen sie für ein hohes ganzheitliches und schulisches Lernniveau, sie sind stets wache und aufmerksame Begleiter des empfindlichsten Teils des Lebenswegs von Menschen, die Vertrauen in das menschliche Lernen, also die „fremde Kindheit“ zu haben.

 

 

 

Der zweite Kreis ist der Kreis der Lehrerinnen und Lehrer. Jeden Morgen um 7.15 sitzen alle um den runden Tisch im Lehrerinnenzimmer. Eine nach der anderen leitet die morgendliche viertelstündige Sitzung. Hier wird alles besprochen: das Fehlen von Lehrkräften, die Aktivitäten der einzelnen Klasse, der gesamten Schule, die Extraangebote der vielen Praktikanten oder Eltern, Lehrangebote der Schülerinnen, Sing-Ins, Theatervorführungen, Gottesdienst im Forum, der Film des Vorabendprogramms des Fernsehens, die Bitte um Entlastung wegen einer Unpässlichkeit, die Fortbildung des gestrigen Tages oder wichtige Nachrichten aus dem Familienleben.

 

 

 

Jeden Montag ist Konferenz. Hier werden keine organisatorischen Dinge besprochen, nur Inhalte, die von der Lehrerin bestimmt werden, die roulierend die Sitzung leitet. Alle Kollegen haben Schulleitungsaufgaben, die eine ist zuständig für das Computernetz, die andere für die Homepage, die nächste für den Förderverein, für den Schulchor und die Flötengruppe, für die Einschulung, für die Kontakte zu den Kindergärten, den Schulgarten,

 

die Statistiken, die auszubildenden Lehrerinnen, die Hospitanten, den Kontakt zu Universitäten und Lehrerinnenbildung, und - Alle für Alles.

 

 

 

Es gibt keinen Stundenplan, der die Schule lenkt. Eine oder zwei Kollegen sind zuständig für eine Klasse. Sie verfügen über das gesamte Stundenpotential und organisieren mit den

 

Kindern ihren Tages-, Wochen- und Jahresablauf. Hier werden Epochen, Projekte,

 

 

 

Angebote und Klassen übergreifendes Lernen an außerschulischen Lernorten abgesprochen. Die Kollegen reden immer mit einander. Ihre Schule ist ihre Schule. Sie verantworten, mit weit reichenden Selbstentscheidungs- und Verantwortungs-möglichkeiten selbst. Es gibt kein für alle vorgeschriebenes Konzept der Arbeit oder des „Unterrichtens“in der Klasse, sondern die Summe der Verwirklichung der Kompetenzen aller als maximaler Konsens des Kollegiums.

 

 

 

Der dritte Kreis ist die Versammlung der gesamten Schule. Jeden Montag beginnen alle gemeinsam mit einer Versammlung im Forum. Der Schulleiter begrüßt alle und alle Geburtstage der letzten sieben Tage werden gefeiert. Alle, Kinder und Lehrer stellen vor, was in der vor uns liegenden Woche in der Schulgemeinde geschehen wird, und immer eine andere Klasse gestaltet einen Bericht über das Geschehen der letzten Schulwoche.

 

 

 

Alle 14 Tage findet eine Schulversammlung im Forum statt, deren Durchführung und das Zusammenstellen des Programms in den Händen der Kinder einer Klasse liegt. Hier wird präsentiert, Experimente, freie Texte, Beschlüsse des Kinderparlaments, Theaterstücke, Tänze oder Berichte von Exkursionen oder Klassenfahrten. Wenn ein Problem anliegt kommt es auf die Tagesordnung oder es wird spontan eine Schulversammlung einberufen. (7).

 

 

 

Eine Arbeitssequenz in meiner Klasse mit zwei Kindern der Jahrgangstufe 2, dreizehn der

 

Stufe 3 und elf der Stufe 4, sähe nach dem Planungskreis wie folgt aus: Marc und Hannah

 

ziehen in die Küche, sie brauchen Materialien, um ein Experiment durchzuführen, das sie in einem Sachbuch mit dem Thema „Chemie“ gefunden haben. Vanessa und Joana schreiben an ihren Texten weiter, um anschließend ein paar Runden mit dem Einrad um die Schule drehen zu können. Benni geht mit einem Vater, der einmal in der Woche für zwei Stunden in die Schule kommt, in einen freien Nebenraum. Zunächst schreiben sie gemeinsam einen Text, dann übt Benni sein neues Stück auf der Gitarre. Jasmin geht mit zwei Kindern aus anderen Klassen durch die Schule. Sie machen Interviews für einen Artikel in der Schulzeitung.

 

 

 

Dustin sitzt im Schulleiterzimmer, er braucht viel Ruhe. Er liest in der Nibelungensage. Andre hantiert mit Pinsel, Wachsmalstiften und Farben. Er probiert einige „Maltricks“ aus, die er irgendwo gesehen hat. Philip erklärt Joel wie man im Powerpointprogramm eigene Texte mit Bildern kombiniert.

 

 

 

Daneben sitzt Charlotte am Computer und schreibt ihren freien Text von der letzten Woche ab. Er ist als bester Text der Woche von den Kindern für die Veröffentlichung auf der Homepage ausgesucht worden. Raphael surft durchs Internet und sucht neue Informationen über Ludwig van Beethoven.

 

 

 

Gleich wird er mit Rene und Sara in den Musikraum gehen. Er hat sich selbst die „Ode an

 

die Freude“ auf dem Klavier beigebracht. Nun lehrt er es den anderen. Jakob ist in der Nachbarklasse. Dort baut er mit anderen Jungs mit dem Elektrokasten. Rene geht umher, er arbeitet noch nicht. Ich spreche ihn an. Thomas beschäftigt sich mit der Division mehrstelliger Zahlen, Anna erfindet Aufgaben mit eckigen und runden Klammern und baut Schwierigkeiten der Punkt- und Kommarechnung ein. Sina zeigt Tamara was er über das Wurzelziehen herausbekommen hat. Siyabend, Eduard und Anna-Lena sind mit einem Studenten, der hospitiert, zu einer

 

nahen Autowerkstatt gegangen. Sie lassen sich erklären, wie ein Motor funktioniert. Ihr

 

Ziel ist es einen Vortrag darüber zu halten. Jan und Fabian arbeiten am Thema „Spinnen“.

 

Fabian liest gerade eine Seite im Netz, Jan zeichnet eine Spinne ab. Sara und Roberto

 

sitzen in der Bibliothek und schauen sich ein englisches Lernvideo „Magical English“ an.

 

Robin sitzt am Computer und sucht im „Leo deutsch-englisch“ Wörter, die zum Thema

 

City“ passen.

 

Um 10 Uhr wird es die tägliche Rechtschreibzeit von maximal einer halben Stunde geben.

 

Alle sitzen um die Tafel herum. Heute erforschen wir gemeinsam die Schreibweise von

 

Wörtern mit drei Buchstaben. Der Klassenrat hat beschlossen, dass es immer für eine

 

Woche die tägliche Rechtschreibzeit, eine Woche Mathezeit und eine Woche Englisch -

 

zur zusätzlichen wöchentlichen Doppelstunde - gibt. Dann folgt wieder das

 

Rechtschreiben, und so weiter.

 

Danach wird es einen Kindervortrag über Pluto und Charon geben. Nach der nächsten

 

Pause gibt es verschiedene Arbeitsgruppenangebote in der Schule, wie Schach, Tanz,

 

Tischtennis, Golf, Flöten, Textiles oder Werken.

 

In dieser Woche wird es noch einen gemeinsamen Sportunterricht in einem von den

 

Kindern aufgebauten Parcours geben, die wöchentliche Dichterlesung, und den

 

Wochenabschlusskreis in der letzten halben Stunde der Woche. Hier wird berichtet, was

 

für jeden Einzelnen in der Woche das Wichtigste, auch über die Schule hinaus, war.

 

Andere Klassen arbeiten in dieser Zeit ebenfalls an eigenen Themen und Miniprojekten.

 

Andere machen gerade ein gemeinsames Europaprojekt, andere arbeiten mit dem

 

Magischen Baumhaus“ und entwickeln hieraus individuelle Projekte, drei Klassen proben

 

in dieser Woche ein größeres Theaterstück. Hierfür gab es ein Casting. Jeder konnte

 

einen Job in bestimmten Schauspielerrollen, als Souffleur, Bühnenbildner, Musiker,

 

Tänzer oder Kostümschneider bekommen. Eine andere Klasse besucht gerade

 

Fernsehstudios des WDR im nahen Köln.

 

Unsere Kinder sind in neun Klassen Jahrgangs übergreifend organisiert. Die Kinder

 

werden in alle Klassen mit vier bis sieben „Erstklässlern“ eingeschult. Die Eltern werden

 

vor der Einschulung in einem Informationsschreiben über die

 

Jahrgangszusammensetzung der verschiedenen Klassen, die Teamklassen8, die

 

KlassenlehrerIn und möglichen Schwerpunkte der Arbeit in der Klasse, wie Musik, Sport,

 

Englisch, Naturwissenschaften oder Theater informiert. Die Eltern können, ähnlich wie bei

 

der Wahl von Arbeitsgruppen in Projektwochen, drei Wünsche zu ihrer Klassenwahl

 

äußern. Einem der drei Wünsche zur Einschulung kann in der Regel Folge geleistet

 

werden. Ist dies nicht der Fall, folgen besondere Gespräche zur Beratung der Eltern.

 

In diesen Klassen, sie heißen „Fledermäuse“, „Forscher“, „Genies“ oder

 

Mondscheinkinder“, gibt es keinen „Abteilungsunterricht“, also keine regelmäßige

 

Rücktrennung der Kinder in Jahrgangslerngruppen. Die Klassen werden im Prinzip aus

 

Kindern der Jahrgänge 1 bis 4 gebildet.9 Aus dem offenen sich selbst organisierenden

 

Lernen heraus bilden sich verschiedene zeitliche und inhaltliche Alters gemischte

 

Lerngruppen. Im Anfangsunterricht bekommen die Kinder keine von den Lehrern

 

formulierten Arbeitsaufträge, keine Arbeitsblätter, Lernprogramme oder Schulbücher. Sie

 

lernen vom ersten Tag an ihre eigene Arbeit zu bestimmen.

 

Im Planungskreis am Morgen wird gefragt „Was tust du heute?“ Sie beginnen mit weißen

 

Blättern, Farben, Stiften, Büchern, und wenigen Materialien wie dem Buchstabentor,

 

Bauklötzen, Waagen, Zollstöcken, ausgesuchten Computerprogrammen, Schere, Kleber,

 

Holz, Hämmern und Nägeln. Sie lernen zunächst also „nur“ sich für eine selbst bestimmte

 

Arbeit zu entscheiden, diese zu Ende zu führen, sich mit anderen zu verständigen, zu

 

verabreden, um sie im Kreis wieder vorzustellen. Dort erfahren sie was die anderen tun,

 

wie sich andere das Schreiben und Lesen beibringen, wie sie sich die Zahlen und Größen

 

erobern, lernen, was die „Größeren“ schon können. Wir und der Kreis begleiten sie in ihre

 

eigene Lern-Kompetenz-Spirale.

 

Wenn bei uns nicht Pläne, Schulbücher, Klassenarbeiten, Tests, die LehrerInnen oder gar

 

Noten, Strafen oder „Druck“ als Antriebskräfte für Leistung, Lernen und Weiterentwicklung

 

dienen, so müssen auch bei einem selbst bestimmten und selbst verantworteten Lernen

 

sichtbare Strukturen oder Muster für Kinder erkennbar sein. Dies sind auf der Verhaltensund

 

Beziehungsebene das konsequente Ernstnehmen der Kinder als selbstständige,

 

eigenständige und einzigartige Lernerpersönlichkeiten durch die Erwachsenen, die

 

Gestaltung eines demokratischen Alltagslebens in der Schule und der Kommunikation bis

 

hin zu den Elternhäusern. Lernen braucht Vertrauen der Erwachsenen und der Kinder in

 

sich selbst. Vertrauen in die grundlegende Fähigkeit des Menschen, Lernen zu können

 

 

 

und zu wollen. Die Entwicklung der Lernaktivität braucht als elementare Voraussetzung,

 

wenn wir den „Zwang“ eliminieren, Wohlbefinden.

 

 

 

In der letzten Dichterlesung meiner Klasse haben drei Kinder, gegen die Abmachungen im

 

Klassenrat, keinen eigenen Text geschrieben, den sie den anderen vorlesen könnten. Es entsteht Empörung, da gerade mit diesen Kindern lange genau über dieses Problem im

 

Klassenrat gesprochen wurde. Nach einiger Zeit ist herausgearbeitet, dass alle gerne

 

schreiben, aber eben die Drei „keine Lust“ hatten zu schreiben. Es entsteht Ratlosigkeit.

 

 

 

So erkläre ich ihnen genau das, was ich hier beschreibe mit der Frage: „Was ist los Leute,

 

ihr könnt schreiben, wollt es aber nicht. Schule braucht Wohlbefinden. Gibt es etwas was

 

ihr nicht sagt und euch am Schreiben hindert?“

 

 

 

Dann bricht es aus ihnen hinaus: „Meine Eltern bauen ein Haus. Sie haben nur noch das Haus im Kopf. Und ich durfte noch nicht einmal Karneval feiern. Ich musste mit zur Baustelle“.

 

 

 

Das nächste Kind: „Meine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen. Bis zum Sommer. Und wir dürfen sie vorerst noch nicht einmal besuchen“. Und last but not least: „Ich habe nur Stress mit meinen Eltern. Und jetzt zieht auch noch mein bester Freund zu seiner Mutter, dreihundert Kilometer weg!“

 

 

 

Sofort wurden Sorgengruppen eingerichtet. Kinder suchen sich Gesprächspartner aus,

 

ziehen sich zurück und reden über eine Stunde intensiv über ihre Probleme. Sie werden

 

wieder schreiben, trotz oder vielleicht sogar über oder gegen ihre Sorgen.

 

 

 

Wenn diese Voraussetzungen des Wohlbefindens immer wieder geschaffen und

 

garantiert (!) sind, können Menschen sich um die gesamte Palette ihrer Lernfähigkeiten

 

kümmern. Durch die Abfolge von kooperativer Planung, individueller und kooperativer

 

Arbeit, durch Präsentation und Dokumentation, durch Würdigung, Evaluation und

 

Versprachlichung der Reflektion der eigenen Arbeit begeben sich die Kinder drei bis fünf

 

Jahre lang in eine Lernkompetenzspirale, in der das Lernenlernen gelernt wird.

 

 

 

1Grundschule - Richtlinien und Lehrpläne, Düsseldorf 1986 und Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2003

 

2 Rainer K. Wick, Bauhauspädagogik, 4. Auflage, Köln 1995

 

3 Walter Hövel, Eine Schule nach Freinet organisieren? In: Pädagogik, Heft 2,1993, S.26ff

 

4 Hugo Kükelhaus, Unmenschliche Architektur, Von der Tierfabrik zur Lernanstalt., Köln 1988

 

5 Aus dem Sumpfgelände wurde in vielen Jahren durch Eigeninitiative der Eltern, LehrerInnen und Kinder eine große Abenteuerlandschaft rund um das Schulgebäude.

 

6 vergleiche hierzu: Falko Peschel, Offener Unterricht, Hohengehren 2002

 

7 vergleiche hierzu: Walter Hövel, Ursula Resch, „Was Hänschen nicht lernt...“, Demokratie lernen in der Grundschule Harmonie, In: Beiträge zur Grundschulreform, Bd.116, Kinder beteiligen – Demokratie lernen?, Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V., Frankfurt am Main 2003, S.222 ff.

 

8 Wir arbeiten daran, dass die Kinder über die „Klassengrenzen“ hinweg das Kooperieren lernen. Daher erproben immer zwei bis drei Klassen Formen des Klassen übergreifenden Zusammenarbeitens.

 

9 Leider, falscher oder auch dummer Weise endet die einheitliche Grundschule für alle in den meisten Teilen

 

Deutschlands nach der vierten Klasse.