"Die Kinder sind verantwortlich für ihr Lernen"

Individuelle Förderung an der Grundschule Harmonie in Eitorf

Von Oliver Mohr

 

7.15 Uhr ist früh. Eigentlich zu früh für Walter Hövel. Denn der Schulleiter der Grundschule Harmonie in Eitorf ist bekennender Langschläfer. Trotzdem schafft er es morgens immer pünktlich zum "Kreis" mit den anderen Lehrerinnen und Lehrern. "Dieser Austausch jeden Morgen noch vor Unterrichtsbeginn ist mir unheimlich wichtig.“

 

Der "Lehrerkreis" jeden Morgen im Lehrerzimmer der Grundschule In dieser Viertelstunde wird alles besprochen, was organisatorisch an dem Tag geregelt werden muss", erklärt Hövel. So auch an diesem Morgen. Zusammen mit zehn Kolleginnen und Kollegen sitzt er am runden Tisch im Lehrerzimmer. "Juliane, können wir heute einen PC bei dir in der Klasse nutzen, bei uns hat einer nämlich seinen Geist aufgegeben", fragt Alma Schmitz ihre Tischnachbarin. Eine andere Lehrerin erzählt vom geplanten Wandertag zum WDR, für dessen Organisation sie noch Hilfe gebrauchen könnte.

 

Eine halbe Stunde später: "Planungskreis" im Klassenraum der Roten Diamanten. 22 Kinder sitzen auf ihren Stühlen und berichten von ihren Plänen für diesen Tag. Der 8- jährige Jens-Peter ist ganz in seinem Element, er ist heute der Moderator. Reihum nimmt er alle Kinder dran. "Jan, was machst Du heute?" "Ich forsche am Computer über Tiere, was sie essen und welche Feinde sie haben", antwortet Jan. Jetzt ist Jans Sitznachbar Lukas an der Reihe. " Ich mache Mathe, so Aufgaben wie 350 mal 450", sagte der 9- jährige. Und die 7 Jahre alte Sabine erzählt: "Ich schreibe die Wochengeschichte von den stehenden Uhren weiter."

 

"Planungskreis" in den einzelnen Klassen Als die 8-jährige Lydia zunächst nichts sagen möchte, greift Lehrerin Alma Schmitz, die mit im Kreis sitzt, zum ersten Mal ein: "Lydia, was hast Du dir heute vorgenommen?" Jetzt flüstert das Mädchen: "Geheim". Kinder und Lehrerin wissen sofort Bescheid: "Geheim" heißt Geschenke basteln für ein Geburtstagskind in der Klasse. "Das ist das Tolle an dieser Schule: Die Kinder erleben hier ein selbst bestimmtes Lernen. Sie bekommen nichts von mir aufgestülpt, sondern können sich den Stoff für die Woche selbst einteilen. Dadurch fühlen sie sich ernst genommen", erzählt Lehrerin Alma Schmitz begeistert. "Durch die jahrgangsübergreifenden Klassen lernen die Kinder auch ganz viel von ihren Mitschülern. Die älteren geben den jüngeren Kindern Tipps, und das schafft ein richtiges Miteinander in der Klasse. Deshalb gibt es auch nur selten Streit zwischen den Schülern. Sie lernen, sich gegenseitig zu helfen. Das ist unser Konzept: Die Kinder sind verantwortlich für ihr Lernen und ihr Tun, nicht die Lehrer."

 

Viel Zeit für einzelne Schüler

Alma Schmitz hat sich nach ihrer Ausbildung direkt an der Grundschule Harmonie beworben. Unterricht ohne festen Stundenplan, ohne klassischen Frontalunterricht- dafür mit einem engagierten Kollegium und vor allem wirklich ausgeübter individueller Förderung der Kinder: das hat die 25-Jährige fasziniert. Auch wenn sie den Unterricht in dieser Form durchaus als anstrengend, als fordernd, empfindet. "Ich bin abends schon ganz schön gerädert.“

 

Dadurch, dass bei mir ja 6 und 10-Jährige in einer Klasse sind, muss ich natürlich aufpassen, dass mir kein Kind aus dem Blick gerät. Aber ich denke, meine Kollegen und ich bekommen das hin, weil wir uns jedes Kind einzeln ganz intensiv und regelmäßig auf seine Stärken und Schwächen hin anschauen." Heute hat sich Alma Schmitz den 8-jährigen Stefan "vorgenommen". Direkt nach dem Planungskreis in der Klasse ist sie mit ihm in einen Computerraum gegangen. Stefan hat Probleme mit dem Rechnen, erzählt die Zahlen immer an seinen Fingern ab, Textaufgaben sind ein Graus für ihn. "Schau hier, Stefan. Das sind die Zehner, und das die Einer". Während Alma Schmitz ihm am PC ein Rechenprogramm erklärt, wirkt der 8-jährige erleichtert, dass sich seine Lehrerin Zeit für ihn nimmt. Für ihn allein- eine ganze Viertelstunde lang. Zeit, die sich die Pädagogin nehmen kann. Denn die anderen "Roten Diamanten" arbeiten hochkonzentriert und leise an ihren Aufgaben. Jan sitzt in der Klasse vor einem PC und sucht Infos über Tiger aus dem Internet.

 

Schülerinnen in einem Klassenraum der Grundschule Harmonie Lukas brütet über Matheaufgaben, und Sabine schreibt eifrig an ihrer Wochengeschichte. Einen kleinen Aufsatz, den sie Ende der Woche in der "Dichterlesung" präsentieren muss. Vor allen anderen Kindern ihrer Klasse wird sie dann ihren Text vortragen. Ein bisschen Bammel hat sie schon, aber zu aufgeregt ist sie nicht, denn beim letzten Mal hat es ja auch schon "super geklappt", findet die 7-Jährige.

 

Eltern engagieren sich

Unterdessen ist Tobias aus der Klasse hinausgelaufen und in die Bibliothek der Schule gestürmt. "Das fliegende Klassenzimmer"- ist sein Wunsch-Buch. Angelika Popisz drückt es ihm in die Hand. Sie ist keine Lehrerin an dieser Schule, sondern Mutter eines 7-Jährigen. Eltern sind in den Alltag der Grundschule Harmonie integriert- das sieht das Konzept der Schule vor. Angelika Popisz arbeitet wie viele Eltern regelmäßig mit. "Mir gefällt, dass die Schule so offen und transparent ist. Es gibt hier keinen Unterricht hinter verschlossenen Türen. Wir können als Eltern z.B. auch jederzeit am Unterricht teilnehmen." Die Offenheit zahlt sich aus: Die meisten Eltern engagieren sich.

 

Außer in der Bibliothek z.B. in der Druckwerkstatt oder in einer der zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, wie der Fußball-, Töpfer-, Feuerwehr- oder Spanisch-AG. Angelika Popisz ist jetzt seit knapp zwei Jahren in der Schule aktiv. Zwei Mal in der Woche betreut sie die Bibliothek oder die Druckwerkstatt. Ihr Einsatz für die Schule ist nicht selbstverständlich, denn anfangs war sie schon sehr skeptisch. "Ich habe schon gedacht: Lernt mein Kind hier wirklich den Stoff, den es später für die weiterführende Schule braucht? Und wie soll das alles ohne Stundenplan funktionieren? Aber jetzt ist mein Sohn ja schon das zweite Jahr hier, und ich bin sehr zufrieden". Lehrerin Alma Schmitz bestätigt: "Für viele Eltern sind die Unterrichtsformen hier natürlich ungewohnt. Wenn jemand unsicher ist, ob er sein Kind hier wirklich hinschicken will, biete ich ihm an, einen Tag lang den Unterricht zu besuchen. Und meistens sind die Bedenken dann ausgeräumt."

 

Auch Schulleiter Walter Hövel führt natürlich viele Elterngespräche. "Viele Eltern denken anfangs, die Kinder können hier fast machen, was sie wollen. Das ist natürlich nicht der Fall. Anfang der Woche wird festgelegt, welchen Stoff welches Kind in den 5 Tagen lernen sollte. Nur wann genau das Kind z.B. Mathe oder Deutsch lernt, kann es selbst entscheiden. So bilden die Lehrpläne und unser Konzept eine Einheit", erklärt Hövel. "Wir betreiben auch keine Laisser-faire-Pädagogik der 70-iger Jahre. Auch wenn sich die Lehrer im Unterricht zurückhalten und die Kinder selbst lernen lassen, gibt es Grundregeln, die auch durchgesetzt werden."

 

Ein Beispiel: Jedes Kind muss in der Schule Hausschuhe anhaben. Ist dies nicht der Fall, wird es von den Lehrern solange darauf aufmerksam gemacht, bis es welche anzieht. "In der Regel ist ein Eingreifen von uns aber gar nicht nötig, weil sich die Kinder gegenseitig auf das Verletzen von Regeln hinweisen", sagt Hövel. Das Konzept der Selbst- und Eigenverantwortung der Kinder kommt an. Spätestens seit dem guten Abschneiden beim Wettbewerb Deutschen Schulpreis kennt die Schule jeder in der Region an der Sieg. Anfang Februar hat die Grundschule Harmonie zudem das "Gütesiegel Individuelle Förderung" verliehen bekommen. Ein großer Erfolg für den Schulleiter und das Lehrer-Kollegium. "Das freut uns natürlich sehr und macht uns auch ein bisschen stolz. Individuelle Förderung ist für uns so wichtig, weil sie überhaupt erst die Grundlage für Unterricht schafft." Von dem Gütesiegel verspricht sich Hövel auch einen Imagegewinn seiner Schule über die Region hinaus. "Ich habe schon Anfragen von Eltern aus Bonn und aus anderen Städten in der Nähe. Die freuen sich offenbar auf die Abschaffung der Schulbezirke, wenn sie ihr Kind auch zu uns schicken können."

 

Kindern Selbstbewusstsein geben

Mittlerweile ist es leer im Klassenraum der "Roten Diamanten". Dafür füllt sich das Foyer der Schule. Aus allen Räumen strömen Schüler und Lehrer, die Kinder setzen oder hocken sich auf den Boden. "Good Morning, boys and girls", ruft Lehrerin Schmitz in die Runde. "Good Morning Misses Schmitz", antworten ihr die Schüler. In der Doppelstunde Englisch für alle Schüler werden nicht nur neue Vokabeln gelernt, es wird vor allem viel gesungen. Diese gemeinsamen zwei Schulstunden sind eine Ausnahme: den Rest der Woche lernen die Kinder überwiegend individuell oder in kleinen Gruppen. Nach dem Englischunterricht ist für die meisten Kinder Schluss mit Schule an diesem Tag. Nur einige verbringen noch zwei Stunden in AG`s. Lehrerin Schmitz hat noch keinen Feierabend. Mit zwei Eltern will sie jetzt in Ruhe längere Gespräche über ihre Kinder führen. "Auch wenn es viel Kraft und Engagement kostet: Ich bin überzeugt, dass sich der Einsatz lohnt. Wenn man beobachtet, wie sich die Kinder zu starken Persönlichkeiten entwickeln, ist das toll anzusehen. Es kommt so unglaublich viel zurück."

 

Das empfindet auch Schulleiter Walter Hövel. "Hier den Kindern Selbstbewusstsein zu geben und ihr Selbstwertgefühl zu steigern, ist eine wahnsinnig interessante Aufgabe. Außerdem treibt mich mein Demokratieanspruch an: Das Leben selbst in die Hand zu nehmen- das möchte ich den Kindern mit auf den Weg geben." Kurz nachdem Hövel dies sagt, schlägt er plötzlich die Hände über dem Kopf zusammen. Sein etwas verärgert wirkender Blick ins Schulleiterzimmer verrät, warum. Auf seinem Schreibtisch liegen zerknüllte Blätter, zwei Bücher sind zudem auf den Boden gefallen. Hinterlassenschaften von Schülern, die ab und zu auch den Arbeitsplatz des Schulleiters benutzen dürfen. Hövel, jetzt wieder schmunzelnd: "Das ist wohl etwas, was wir gemeinsam noch verbessern müssen. Ordnung zu halten. Dafür hätten wir bestimmt kein Gütesiegel bekommen."