Walter Hövel
Eine ganz andere Erklärung
für das, was an der Grundschule Harmonie passierte

 

Wenn du in Wien die Maria-Hilfer-Gasse eine sehr bekannte, Fußgänger beruhigte Einkaufsstraße hinunter gehst, gibt es eine Passage mit der Hausnummer 45. Sie führt durch die Häuser zwischen Häusern, über kleine Plätze und Gassen gerade aus bis zum Naschmarkt.

Mitten drin gibt es ein kleines Café. Du kannst davor oder daneben sitzen. Keine Autos, kein Lärmen, kein Gedränge, kein Konsum. Ich fühlte mich fast wie in einem Dorf, als ich dort saß. An einem Tisch, hinter mir einen ganz, ganz kleinen Park, auf der anderen Seite Gerhards Galerie.

Wir tranken Rotwein, Kaffee, Wasser und ich meine Cola mit „Inländerrum“. Stundenlang quatschten drei Frauen und ein Mann mit einander, die sich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatten. Ich konnte in die Galerie gehen. Immer wieder. Ich malte an einem Bild. Alle Farben, das Papier, die Pinsel und Stifte waren da. Und die Zeit.

Zwischendurch setzte ich mich zu den anderen um mit ihnen zu reden. Hätte ich Klavier spielen können, ich hätte es stundenlang tun können.

Ich war in einer Enklave, auf einer Insel, obwohl mitten in einer Stadt, die mitten in den Bergen und Wäldern, mitten in vielen Staaten, mitten in Europa liegt.

Und da wurde mir klar, es war wie an der Grundschule Harmonie.

Ich musste nicht mitreden. Ich durfte etwas anderes tun. Es war anerkannt in diesem Stillstand der Zeit in der Mitte vieler lebender Menschen, in der Mitte der Gemeinschaft von Menschen.

Gerhard erzählte, dass er das Schreiben und die Frauen liebte, der Gastwirt kam aus Bosnien. Die andere aus kam aus Polen und arbeitet viel lachend gegen die Verminung der Kriegsgebiete. Wieder eine andere aus Kärnten und die nächste lebte in Deutschland. Die Gäste der Galerie kamen aus Rumänien und Japan. Wieder andere sprachen Russisch oder nie gehörte Sprachen.

Ich wurde angeregt mein eigenes Ding zu machen. Zeit wurde so entschleunigt, dass du deine Zeit zum Leben fandst.

Die Grundschule Harmonie war für die meisten Gäste wie ein Dorf, nicht wie eine Schule. Du kamst zuerst in ein großes Forum. Einige Kinder spielten Schach, andere schrieben. Einige spielten Theater, andere am Klavier. Einige druckten, andere schauten den Fischen im Aquarium zu. Andere lagen auf einem Sofa, wieder andere saßen zusammen, um mit einander zu reden. Jemand hielt im Lehrerzimmer einen Vortrag mithilfe der Whiteboard, andere hörten zu.

Einer ging durch den Flur, um ein Buch zu lesen, wieder andere vermaßen irgendwelche Teile des Hauses, während wieder andere ihren Laptop bemühten, um an ihrem Thema zu arbeiten. Wieder andere aßen oder tranken etwas. Einige malten im Kunstraum oder draußen. Andere sägten, trommelten, lernten Schlagzeug oder redeten mit einem Erwachsenen.

Ja, die Schule war ein bisschen wie diese Passage in Wien. Da gab es schon einmal eine Klasse, in der mehrere lernten. Da spielten schon einmal zwei Mädchenteams auf dem schuleigenen Minispielplatz Fußball. Da halfen welche in der schuleigenen Küche beim Kochen. Da telefonierten welche mit dem Zoo in Köln. Da gab es schon einmal eine Vorlesung im Forum oder eine Kinderparlamentssitzung am großen Tisch. Da gab es viele Vorträge und immer und überall Menschen, die nichts oder viel taten.

Manchmal saßen ganze Klassen zusammen, um sich gegenseitig ihre Texte vorzulesen. Anderenorts konntest du sie draußen oder drinnen ihre Experimente machen sehen. Wieder andere tauschten Zehnermuggelsteine gegen Hunderter, weil sie das Rechnen begriffen.

Die Rockband probte miteinander, die anderen spielten englische Rollenspiele. Wieder andere surften am Computer oder pflanzten Blumen im Garten. Da fuhren welche Einräder, andere bauten ihre Riesenschaukel oder ihr englisches Piratenschiff in der Sporthalle. Da arbeitete jemand an seiner Rechtschreibung, da lernte jemand die Hauptstädte Afrikas auswendig.

Andere gingen zum Vorlesen in den benachbarten Kindergarten, andere wollten in der benachbarten Autowerkstatt wissen, wie ein Motor funktioniert. Wieder andere hörten beim Vorlesen von Momo zu, andere diskutierten mit einem Gast über den Sinn des Lebens.

Aber keiner musste lernen, geschweige denn mit einem Lehrer. Keiner musste von Geschäft zu Geschäft hasten um zu konsumieren. Keiner musste von Stunde zu Stunde hasten, um den nächsten Test zu bestehen.

Du wurdest angeregt dein eigenes Ding zu machen. Deine Zeit wurde so entschleunigt, dass du deine Zeit zum Lernen fandst.

Jeder durfte sie oder er selbst sein, durchgehend, malend, träumend, schreibend, redend oder schweigend. Du warst immer bei dir, ohne alleine zu sein.

Und so lernte jede und jeder. Jeden Tag in dieser Passage mitten im Leben und unserer Zeit. So lernte jeder in diesem Dorf von jedem an jedem Ort und von jedem, der vorbeikam.

 

Und es waren viele, die diese Abkürzung zum Naschmarkt genossen oder zufällig Freunde trafen.