"Schreibt keine Gesetze nieder, so wie die Schriftgelehrten es tun"[1]

Schulprogramme

von Walter Hövel (2001)

 

Meines Wissens taucht in Deutschland der Gedanke des "Schulprogramms" staatlicherseits zum ersten Mal 1985 in den Grundschulrichtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen auf. Hier heißt es im letzten Kapitel "Handhabung der Richtlinien und Lehrpläne":

"Den Lehrerinnen und Lehrern der Grundschule stellt sich die Aufgabe, auf der Grundlage der Richtlinien und Lehrpläne und unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen das Leben und Lernen in der Schule in pädagogischer Freiheit und Verantwortung zu planen und zu gestalten. Sie erhalten dadurch die Möglichkeit, ihre Schule- bei aller Vergleichbarkeit im Grundsätzlichen - ein eigenes pädagogisches Profil zu geben."[2]

Im Folgenden fordern die Richtlinien für das Schulprogramm:

· Die Bewusstmachung, kritische Einschätzung und Weiterentwicklung der eigenen pädagogischen Arbeit

· Die Berücksichtigung der konkreten Lernbedingungen

· Die Nutzung der eigenen Erfahrungen

· Die Fortsetzung bewährter Traditionen

· Die Einbeziehung des schulischen Umfelds und des Heimatraums der Kinder in Unterricht und Schulleben

· Ein individuelles Schulprogramm

Als Beiträge des Schulprogramms werden aufgezählt:

· Absprachen über besondere Fördermaßnahmen

· Zeitweilige Klassen- und Jahrgangs übergreifende Maßnahmen

· Vorhaben, Projekte und Arbeitsgemeinschaften

· Vereinbarungen über Feste und Feiern, Tages-, Wochen- und Jahresablauf

· Gestaltung des Schulanfangs und des Übergangs zu weiterführenden Schulen

· Besondere Formen der Zusammenarbeit mit Eltern, Kindergärten und anderen Schulen, regionalen Schulberatungsstellen, den Schulpsychologischen Diensten, Einrichtungen der Erziehungsberatung und den Kirchengemeinden

· Einbeziehung außerschulischer Lernorte

· Wanderungen und Klassenfahrten

· Nutzung und Gestaltung des Schulgebäudes, der Klassenräume, Pausenflächen, Sportstätten und Freiflächen

· Einrichtung und Unterhaltung eines Schulgartens

· Erarbeitung eines Schulverkehrsplanes

Die Handhabungen schließen mit dem Gedanken: "Das Schulprogramm spiegelt die pädagogische Grundorientierung des Kollegiums wieder und ist zugleich Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung aller Lehrerinnen und Lehrer und der Eltern für ihre Schule."[3]

Diese „Orientierung“ wird deutlich zur grundgesetzlich garantierten pädagogischen Freiheit der Lehrenden durch folgende Formulierung abgegrenzt, die bereits für die „höher gestellten“ Richtlinien und Lehrpläne gelten: Die Richtlinien und Lehrpläne tragen der pädagogischen Freiheit des Lehrers dadurch Rechnung, dass ihre Konkretisierung in die Verantwortung jeder einzelnen Lehrerin und jedes einzelnen Lehrers gegeben wird.“

Schulprogramme sind also weder Konkretisierungen der Lehrpläne, noch können sie kollektiv geschneiderte Rezepturen zur unterrichtlichen Anleitung des konkreten Schulalltags von Lehrerinnen und Lehrern sein.

Zunächst waren diese Schulprogramme als Angebot der Richtlinien an die Schulen gedacht. Hintergrund waren wohl die Erfahrungen niederländischer Schulen. Hier muss der Staat bei einer genügenden Zahl von Eltern und Kindern eine Schule in Gang bringen, wenn die Eltern ein besonderes pädagogisches Profil fordern und formulieren können. So ist hier ein Schulprogramm Voraussetzung zur Gründung einer neuen Schule. So gibt es in den Niederlanden eine größere Zahl von z. B. Jenaplan-, Daltonplan-, Freinet- oder Montessorischulen.

In NRW wurde das Angebot der Formulierung eines eigenen Schulprogramms kaum angenommen. Die Motivation zur Veränderung von Schule war bei uns nicht von „unten“, also von den Betroffenen her angesetzt, sondern von „oben“, eben durch staatliche Richtlinien. Diese waren zwar in Zusammenarbeit mit 300 Grundschulen formuliert worden, die sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet hatten. Das war dann auch die Crux. Dies waren die pädagogisch engagiertesten Kräfte im Lande, die übergroße Mehrheit der Schulen und KollegInnen des Landes zeigte wenig, sehr wenig bis kein Interesse an der Umsetzung. Wie es in politisch zentral tradierten Staaten vorkommt, waren die staatlichen Ansprüche - auf Grund der Einsichten in gesellschaftliche und wirtschaftliche Innovationsveränderungen – bezüglich der Lehrinhalte und Lernmethoden progressiver als die des Volkes, sprich Eltern und Lehrer. Da der Staat wiederum nicht zu einer wirklichen Reform bereit oder in der Lage war, nämlich der Abschaffung der kinderfeindlichen und Herrschafts und Abhängigkeits erhaltenden Leistungsselektion in einem gegliederten Schulwesen, orientierte sich vor allem eine zu große Zahl von Eltern nicht an pädagogischen Zielen, die sie sich im Konkreten durchaus zu eigen machen können, sondern an den gesellschaftlichen Ängsten mit der Formel „Ohne Abitur keine Zukunft für mein Kind“. Dies ist und war der Nährboden für falsche Leistungs-, Vergleichbarkeits- und Qualitätsrufer. Nur wenige Schulen entwickelten, ob aufgeschrieben oder nicht, so etwas wie ein schul-programmatisches Selbstverständnis. Einige Schulen machten sich, wie es so schön hieß, „auf den Weg“. Dort blieben sie allerdings auch. Die Mehrzahl versuchte den Unterricht wie eh und je, oder auch eben nicht, zu gestalten. Die Richtlinien hießen so auch noch nach mehr als 10 Jahren die „neuen Richtlinien“.

Dann wurde die Idee des Schulprogramms wiederbelebt. Es waren wohl jene Stichworte, die sich aus der Wirtschaft in das veraltete Bildungswesen „hinüber gehangelt“ hatten. Jetzt galt es, nach dem Vorbild der privaten Wirtschaft zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Absichtlich die Ressourcen, die Finanzen und das Personal verknappen bei gleichzeitiger Modernisierung durch "synergetische" und "common identity" Managereffekte.

Arbeitsverdichtung durch Steigerung der Teamfähigkeit, professionelleres Auftreten der Mitarbeiter als informationsfreudiger Kundenservice,  Qualitäts-steigerung durch Veränderung von Grenzwerten, Entwicklungsplanung mit der Aufforderung zum Mitverantworten, Verantwortung nach unten drücken, und ähnlicher Zeitgeist hauchte sich Richtung Schule.

Dann wurde das Erstellen eines Schulprogramms in NRW Pflicht. Sinn und Zweck der Übung war die Erkenntnis, dass ohne Kooperation der Beschäftigten keine Modernisierung von Schule stattfindet, Richtlinien in dieser Form nicht umsetzbar sind.

Um es anders auszudrücken. Die Form der heutigen Schule ist gesellschaftlich zu wenig effektiv, mit dieser Schule schafft man es nicht die "digitale Kultur" als vierte Kulturtechnik in der Bildungslandschaft zu etablieren, noch schafft es das alte Bildungssystem eine genügend Zahl von Menschen "arbeitsfähig" oder "qualifizierungsbereit" im Sinne einer spontan verwertbaren (Wieder)-Eingliederung in Arbeitsprozesse, zu erhalten. Zudem bringt die alte Schule dieses Land nicht nur auf die hinteren Plätze bei internationalen Bildungsvergleichen, sie ist auch viel zu teuer. Also muss das Kunststück der heutigen Zeit gelingen: mit weniger Mitteln und Personal mehr erreichen! Es war angesagt beim Abbau neu aufzubauen oder beim Umbau  alles Teure rigoros abzuschaffen.

Und in der Tat gelang es, Kollegien, die sich bisher gegenseitig und Schulveränderungen verweigerten, zu Erarbeitung von programmatischen Aussagen dienstlich zu überreden. Viele erarbeiteten zwar wieder nur Papier, andere fanden aber, eher als bei Fortbildungen zur Umsetzung  neuer Richtlinien, zu Formen der Zusammenarbeit und zur Veränderung von Unterricht. Ob dies wirkliche Veränderungen zeitigen wird, kann ich nicht beurteilen.

Ich sehe nur, dass auch dieser Reformversuch eine Chance ist, eine Pädagogik zu formulieren, die sich für die Grund- und Menschenrechte der Kinder einsetzt.

 

Die nachfolgenden Auszüge aus dem Schulprogramm der Grundschule Harmonie in Eitorf sind seit der Gründung der Schule in einem mehrjährigen Prozess entstanden. Jeden Montag sitzen wir im siebten Jahr zusammen, und reden und arbeiten gemeinsam an einem lebenden Programm unserer Schule. Gelebte Programme bevorzuge ich, vor-geschriebenen misstraue ich.

Wir haben dann angefangen das aufzuschreiben, was wir artikulieren können, für uns, weil es uns Spaß macht uns selbst zu artikulieren, weil wir uns klarer über uns selbst werden. Und wir hatten das Gefühl, etwas aufzuschreiben, was es wirklich gibt.

Auch tun wir dies, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wer immer mit uns in diesem Sinne kooperieren will, ist herzlich willkommen.

 

[1] Worte Jesu, In: Marianne Frederiksson, Maria Magdalena, Frankfurt am Main 1999, S. 11

[2] Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S.17

[3] ebenda