Walter Hövel
Die Bauhaus-Pädagogik und das Offene Lernen heute
Ein pädagogisches Denken, das beim Lernen in der Gegenwart hilft

 

Vielleicht hatte ich damals 1995, beim Aufbau der Grundschule Harmonie, wieder einmal einiges missverstanden, oder - missverstehen wollen. Ich reimte mir etwas zusammen, angeregt durch das Denken der Bauhausmenschen der 1920iger und 1930iger Jahre. Es passte in meine entstehenden Konzepte.

Auf jeden Fall begegnete mir in den 1980iger Jahren ein Buch im DuMont Buchverlag von Professor Rainer Wick von der Uni Wuppertal über die Pädagogik des Bauhauses.

Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich die meisten „wissenschaftlichen“ Beiträge gar nicht lesen kann oder will. Die überkandierte Wortwahl, die Spezialisierung der Bedeutung von Ausdrücken, die Arroganz der Eigensprachbildung, die endlose Verschachtelung von Sätzen und Gedanken ist das eine, was mich immer schon abschreckte. Andererseits begegne ich immer wieder zitierten Belanglosigkeiten, langweiligen irrelevanten oder simple falschen Theorieergüssen, den selbstgewählten kleinbürgerlichen Verballhornung von Pseudoinhalten und dem „Keine-Ahnung-haben“ von wirklicher Praxis.

Oft genug frage und fragte ich mich: „Was will die Autor*in?“. Und wenn ich es endlich verstehe, bin ich oft bitter enttäuscht von der Leere der Lehre. Im Namen von „Wissenschaft“ wird gerne die Ideologie zur Aufrechterhaltung der staatlichen Unterrichtsschule verkauft, anstatt das Lernen der Menschen in Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstwertproduzierung zu provozieren und dort wissenschaftlich zu begleiten, wo so etwas bereits wächst.

Gern wandle ich ein altes EngelszitatEine Unze Praxis ist besser als ein Tonne Theorie“ ab: Wir sollten froh sein, wenn wir überhaupt mal eine gute Unze in Praxis oder Theorie finden. Auf jeden Fall kommt das eine nicht ohne das andere aus, auch wenn die Theorie sich gerne über ihren einzigen Nährboden, die Praxis stellt. Dabei gibt es die guten Beispiele sowohl im Alltag der Praxis als auch in den Höhen von Lehre und Forschung. Aber die setzen sich gegen Gewohnheiten des Durchschnitts, Alltagstrott und Systemerhaltung nur schwer durch.

Auf jeden Fall zählte das genannte Buch nicht zu den „Werken“, die jenes auf schicken Tellern servierten und wiederkäuten, was es schon seit Jahrzehnten in der „Normalschule“ regelmäßig im Angebot gab. In diesem Buch wird eher echte geistige Nahrung zur ganzheitlichen Bildung des Menschen angeboten, anstatt die Ausbildung zur funktionierenden Anpassung durch Fütterung erreichen zu wollen. Es hat mehrere Unzen Feingold. Ich las es. Es las mich und animierte meine Gedankenbildung.

Ich wollte begreifen, dass damals in den 1920iger Jahren in der Geschichte der Pädagogik etwas Ungewöhnliches passiert war. Menschen wurden nicht in ein Konzept, dass andere Menschen, „Experten“ am grünen Tisch der Theorie oder Ideologie ausgedacht hatten, hineingezwungen. Die „Bauhäusler“ wollten nicht in einem Zwangskonzept mit monopolistischem Wissen-wie-es-geht-Anspruch als staatliche Ausbildung „unter“richten.

Da wurden Künstlerinnen und Künstler zusammengeholt, die bereits etwas Außergewöhnliches konnten. Sie leisteten etwas Ungewöhnliches, etwas Wertvolles, bis hin zur Verkaufsfähigkeit. Für sie galt, was 2015 Ulrike Buchmann und Katharina Gimpel (eigentlich für die Kunst und als Kritik am Bauhaus) so beschreiben: „Das betrachtend lernende Subjekt ist demnach der künstlerisch-ästhetische Artefakte und als solches nicht nur Ursprung und Ziel von Kunst gleichermaßen…“

Die Inhalte (!) ihres Denkens sollten die Künstler*innen selbst in eine Form gießen. Dieses Konzept sollte junge Menschen so (aus)bilden, dass sie nicht die Fähigkeiten ihrer „Lehrherren“ klonten, sondern von ihnen inspiriert, neue, eigene Wege finden und gehen sollten. Johannes Itten schrieb: „Aus innerer Begeisterung zu lehren, ist das Gegenteil dessen, was eine vorbedachte, nur methodisch aufgebaute Unterrichtsweise zu vermitteln vermag. Meine besten Schüler sind diejenigen, die aus eigener Intuition andere, neue Wege gegangen sind.“

Sie erfanden eine „Ausbildung“, die durch die Genialität ihrer Lehrmeister zur menschlichen und fachlichen, also zu einer ganzheitlichen „Bildung“ werden konnte.

Ausgangsprinzip dieser Arbeit war „Die Achtung vor dem Menschen ist Anfang und Ende einer jeden Erziehung.“ (Johannes Itten).

Die staatliche Grundschule Harmonie überlas in ihrer täglichen Arbeit dieses gleiche, in ihren Lehrplänen und Richtlinien formulierte Grundprinzip nicht. Sie übertrug die Menschenrechte – wie einst das staatliche Bauhaus auf studierende junge Menschen – nun auf die Rechte der Kinder, die nur – und das uneingeschränkt – Menschenrechte sein können. Sie bot ein Lernen, das dort anknüpfte, wo das Bauhaus 1933 aufhören musste.

Im Bauhaus (Damit ist natürlich nicht die 1960 vom Schweizer Heinz-Georg Baus gegründete Baumarktkette „BAUHAUS“ gemeint, sondern das 1919 bis 1933 existierende „Staatliche Bauhaus“) trafen Leute wie Walter Gropius, Gertrud Grunow, Lyonel Feininger, Johannes Itten, Helene Börner, Josef Albers, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Schlemmer, Lucia Moholy, László Moholy-Nagy, Lilly Reich, Joost Schmidt, Marianne Brandt, Alfred Arndt, Gunta Stölzl, Ludwig Mies van der Rohe und viele andere mehr aufeinander. Sie sollten ein Lernkonzept aus ihren bereits existierenden Persönlichkeiten, aus ihrer Vermenschlichungen heraus entwickeln, nicht aus einer anzustrebenden Utopie der Mächtigen. Sie wollten einer anderen Utopie, die sie bereits lebten, einen ihnen unbekannte Zukunft geben. Sie wollten keine Nachahmer, sondern selbstbestimmt lernende Menschen, die alle erreichbaren personellen, historischen und konzeptionellen Kompetenzen, verarbeitenden, lernend mitnahmen.

Sie kamen   - und das habe ich vielleicht auch missverstehen wollen – zu zwei antagonistischen, aber sich ergänzenden Teilen einer Ausbildung.

Einerseits wollten sie ihre Schüler*innen (wie im Mittelalter) in den künstlerischen Handwerken ausbilden. „Wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.“ (Walter Gropius). Sie benannten die Teile Holz, Film, Druckerei, Glas, Metall, Tischlern, Weben, Wandmalerei, Fotographie, Bühne, Töpfern, Buchbinden, Architektur, Ausstellungsgestaltung und Harmonisierungslehre.

Ihren Namen hat die Grundschule Harmonie aufgrund des Gemeindeteils „Harmonie“, einem ehemaligen Bergwerksstandort. Nicht wegen der Harmonielehre, später Harmonisierungslehre. Sie lehnte ihr Konzept unter anderem an den „Ateliergedanken“ der Arbeitsschule a la Elise und Celestin Freinet an. Dieser Gedanke traf sich, übertragen auf eine Grundschule, wiederum mit den „Werkstätten“ der Bauhausschule.

So gab es in Harmonie einen „Kunstraum, in dem Künstler, nicht Pädagogen, die Arbeit mit Papier, Holz, Farben und Metall anboten. Es gab zentral im Forum der Schule eine von Eltern angebotene Druckwerkstatt. Hier wurden die eigenen Texte gesetzt, Plakate, Postkarten und Wandzeitungen gestaltet, wie in den Klassen, auch Bücher gebunden. Das Drehen von Filmen und das Fotografieren waren fest im Lernalltag verankert und fanden Spezialisten, die diese Techniken qualifiziert anboten. Steinwerkstätten entstanden außerhalb des Gebäudes. Es gab eigens einen Musik- und Theaterraum mit eigener Bühne und zu öffnender Wand zum Versammlungsforum. Dieser Raum war immer (!) in Benutzung. Nicht zufällig war der Musikraum - wie der Gedanke des freien Lernens mit allen Sinnen - in der Schule in der Mitte. Die Präsentation des Lernens, die Ausstellung des Erarbeiteten war eine der Grundelemente der Arbeit der Kinder in der Schule. Sie, als auch die Selbsteinschätzung und die Kreissprechkultur ersetzten Tests, Noten und Verschulung. Die Demokratie des Kreises, des Kinderparlaments und der Gesamtheit der Versammlungen prägte eine Atmosphäre, die das Lernen gegenüber der Behauptung der gesellschaftlichen Machtstellung auch in der Schule in den Mittelpunkt stellte. Hinzu kam, dass der Architekt der Schule bewusst im Sinne Hugo Kükelhaus ein Bungalow ähnliches Gebäude aus Holz, Glas, Licht und Kontakt zur Natur geschaffen hatte. Zudem entstanden ein „Waldraum“, eine Schule als Bibliothek in all ihren Räumen, ein Bewegungsraum, ein Zirkusraum, …                                                 

Andererseits konnten im Bauhaus Studierende zu einem Meister wie Klee oder Schlemmer gehen. Und hier bekamen sie als studierende Menschen das Recht, so lange bei deinem Meister im Atelier zu bleiben, bis sie das Gefühl hatten, genug von ihr oder ihm gelernt zu haben. Dies konnte nach drei Tagen oder drei Jahren sein.

So hatte ich es jedenfalls verstehen wollen. Dieses Konzept wurde einerseits sogar von Teilen der Industrie getragen und gefördert, einerseits von den Nazis bekämpft, zerstört und verboten.

Die im Bauhaus Lernenden sollten als Lehrling Geselle werden, weil sie bei Meistern die seit Jahrhunderten erworbenen Techniken systematisch lernen konnten.

Ich grenze nicht ab, kritisiere nicht „zeitgeistige“ Fehler heraus. Ich verstehe mich eher wie Freinet als Eklektizist. Ich nehme mir – immer eine demokratische Grundhaltung beachtend – das heraus, was mein Handeln und meine Kompetenzbildung in meiner selbstführenden Verantwortung stärkt.

Buchmann und Gimpel von der Uni Siegen beschreiben die „Reintegration…der durch die Industrialisierung hervorgebrachten Trennung von Kunst und Leben, künstlerischer und produktkultureller Sphäre, sowie der zersplitterten Kunstgattungen“.

Wie offensichtlich ist doch die Parallelität unter dem Aspekt der heutigen Trennung von Schule und Leben! Wie nah bei einander sind heute die Zersplitterung des individuellen Lernens in seiner Not und die Großartigkeit der Kräfte der individuellen Lerner im Gegensatz zum Reichtum des Wissens in Medien und Gesellschaft im Vergleich zur Unfähigkeit der Schule und seines Alleinherrschers „Staat“ ein solches Wissen zu vermitteln!

Für die Grundschule Harmonie übernahmen wir zwei sich ergänzende „widersprüchliche“ Teile. Einerseits glaubte ich nicht an die vom Bauhaus vertretene Lehrbarkeit der Handwerke durch Vermittlung. Es ist mir zu nah am Trichterdenken. Auch progressive Schulreformer tendierten zu dieser Auffassung von Schule.

Wir folgten eher der Auffassung, dass man (auch jungen) Menschen als selbstbegabte Lerner trauen muss. Sie sind selbst in der Lage, herauszufinden und zu bestimmen, was sie lernen wollen und können. Schließlich hat auch die Menschheit in ihrer wenige Millionen Jahre zählenden Geschichte keine Lehrmeister als sich selbst gehabt. Somit wurde das eigenständige, autonome Lernen der Kinder aus der Selbstbestimmung des Individuums und seinem Kreis heraus das entscheidende Grundelement des Lernens in Harmonie.

Wir übernahmen aber einerseits den Gedanken der demokratischen menschlichen Grundeinstellung und der dualen Lernumgebung, vor allem unter Berücksichtigung der Werkstätten oder Ateliers. Andererseits faszinierte uns, dass Lernende (als Kind oder Mensch) das Recht haben, sich jene Meister auszusuchen, bei denen sie lernen wollen.

Es war dieses Das-Recht-in-die-Hand-des-Lernenden zu geben, so viel und so lange bei und mit jemandem zu lernen, bis du glaubst genug von einem Menschen „ab“gelernt zu haben. So entstand an der Grundschule Harmonie die Kinderuniversität. In Seminaren und Vorlesungen erhielten die Kinder das Recht sich auszusuchen, in wessen Veranstaltungen sie - innerhalb und außerhalb der Schule, ob bei Erwachsenen oder Kindern - zum Lernen gehen. Noch bei meinem Weggehen fand diese Veranstaltung ein bis drei Tage jede zweite Woche statt. Das Kinderparlament hatte diese Programmatik nach jahrelanger Entwicklung letztendlich durchgesetzt und beschlossen. Eine der wichtigsten Regeln war, dass das Kind auch das Recht hatte, in dieser Zeit an seinen eigenen Themen weiter zu arbeiten.

2016 fand ich in der Bonner Bauhausausstellung Miros Zitat: „Sich nicht durch ein Bauhauskonzept einengen lassen, sondern Bauhaus denken“.

Es war in Harmonie gelungen, dass ein ganzes Team von Kindern, Lehrer*innen, Erwachsenen und sogar Verwaltungsangestellten das eigene Bauhausdenken zu einer Grundlage der Weiterentwicklung einer eigenen Pädagogik gemacht hatte.

Hinzu kamen viele weitere Gedanken, Ideen, eigene Entwicklungen und andere Einflüsse, die die Existenz der Grundschule Harmonie von 1995 bis 2016 beeinflussten.

 

Literatur:
Buchmann, Ulrike. Kell, Adolf. Bildung Architektur Kunst – ein auf(zu)klärender Zusammenhang oder das Bauhaus als Curriculum. S.207. In: Ulrike Buchmann, Eckart Diezemann (Hrsg), Subjektentwicklung und Sozialraumgestaltung als Entwicklungsaufgabe: Szenarien einer transdisziplinären Realutopie, G.A.F.B.-Verlag, Uni Siegen.2013

Buchmann, Ulrike. Gimpel, Katharina, Zur Dramatik der kulturellen Bindung – als sprachliche Tautologie zugleich wissenschaftliche Referenz für Curricula mit Inklusionsanspruch. S.70. In: SI:SO, 1/2015, Jahrgang 20, Uni Siegen 2015

Jeannine Fiedler, Bauhaus, Tandem Verlag 2006

Homepage der Grundschule Harmonie: www.grundschule-harmonie.de

Homepage Walter Hövel: www.walter-hoevel.de

Hövel, Walter. Kinder-Uni selber machen! Wer forschend und eigenständig lernt, entdeckt die Universität wieder, Eitorf 2011, Download:  http://www.walter-hoevel.de/kinderuni/kinderuni-selber-machen/

Hüter, Karl-Heinz. Das Bauhaus in Weimar. Studie zur gesellschaftlichen Geschichte einer deutschen Kunstschule. Akademie-Verlag Berlin 1976

Lernräume aktuell. http://www.lernraeume-aktuell.de/einrichtungen/gs-harmonie.html

Müller, Ulrike. Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design. Insel Verlag. Berlin 2014.

Itten, Johannes. Mein Vorkurs am Bauhaus. Otto Maier Verlag. Ravensburg 1963

Wick, Rainer K. Bauhaus-Pädagogik, Köln DuMont Buchverlag. Köln 1982