Walter Hövel

Lernen wie Menschen

 

Die Schule von heute, die noch so viel von gestern oder oft genug von vorgestern hat, ist zudem immer noch eine verkopfte Veranstaltung.

 

Zuerst hat der Lehrer alles im Kopf zu haben: ein paar neuere und auch ältere Lehrpläne, Wissen von zwei Fächern, das Wissen, wie man testet, benotet, noch ein wenig Wissen um Erlasse, Regeln und Vorschriften, das geheime und allgemein geteilte Wissen darüber, wie Schule zu sein hat, ein ganzes Studium, die eigene Aus-Bildung und natürlich die Erinnerung an die eigene Schulzeit.

 

Was für einen Schädel der hat, unser Lehrer!! Streng, korrekt, fair, sportlich, auf Gesundheit achtend, Fehler erkennend und  pädagogisch denkend.

 

Neben dem Kopf sind bei ihm noch die Hände da, zum Schreiben mit weißer Kreide, roter Tinte und die Fingerkuppen für jedes Board. Früher, also in meiner Jugend, durfte der Lehrer damit noch schlagen. Heute erhebt sich manchmal noch ein drohender Finger, aber oft genug winkt er nur noch ab. Zum Schlagen benutzt er Noten und Versetzungen. Bauch, Füße, Rückgrat oder andere Teile des Körpers sind oft nicht so wichtig.

 

Das Wissen soll aus seinem Kopf in den Köpfe der Lerner gehen. Der Lehrer vermittelt und lehrt Stoff, indem er zu den Lernern spricht. Mal mit Hilfe des Schulbuchs, mal über den Computer, mal über Arbeitsblätter, mal über Wochenpläne oder Logbücher, mal über die Tafel, mal übers Whiteboard, mal direkt, immer von Vorne. Der Lehrer und der Stoff seines Faches sind immer eins und werden aus dem Lehrer heraus oder über den Lehrer den Lernern präsentiert. So führt er, wenn er „gut“ ist, Regie in der Klasse. Die Schülerin und der Schüler brauchen sich alles nur noch per Kopfarbeit abzuholen. Es soll dann über die Ohren, die Augen und die schreibenden Finger der Lerner in ihre Köpfe gelangen.

 

Der moderne Lehrer will nicht mehr, wie früher, das Wissen in die Köpfe ihrer Schülerinnen und Schüler eintrichtern. Die Lerner sollen nun selbst dafür sorgen, wie es reinkommt. Dieses Wie wird ihre Sache. Das ist das neue Verständnis von Lernenlernen, Öffnung und Selbstständigkeit. Zumindest erklärte es mir es so ein gymnasialer Kollege Schulleiter.

 

Einige Lerner können das besser als andere. Einige lesen, sehen, hören etwas und behalten es, mindestens für einige Zeit. Weit über die Hälfte, die das nicht so können, sind auf die Eltern angewiesen. Die bezahlen mit viel Geld Privatlehrer, die das zu Lernende in so genannter Nach-Hilfe doch noch rein machen in die Köpfe. 

 

Das ist einfacher, weil die Lerner in der Schule nicht nah genug an die Köpfe des Lehrers heran gekommen sind. Der hat gerade mal zwei Minuten in der Stunde Zeit für jedes Kind. Mindestens die Hälfte davon geht wieder für Disziplinierungen der Zöglinge drauf. So holt man mit einem Privatlehrer das besser ab, was im Kopf des Lehrers ist. Jährlich wird dafür in Deutschland über eine Milliarde Euro ausgegeben. Dazu kommt noch einmal die familiär gespendete unentgeltliche Lernhilfe von Müttern, Geschwistern, Großeltern und Vätern. Das steigert die Unsummen, die Schulen eh schon an Steuermitteln kosten, nochmals.

 

Die Schülerinnen und Schüler haben in den letzten Jahren mächtig gelernt, gelernt, wie man Schule austrickst, also dabei ist und durchkommt, ohne zwangsläufig wirklich zu lernen. Sie müssen nämlich alle zwei, drei Wochen alles das, was sie in den Kopf gebracht haben, in einem Test wieder raus lassen. Je besser sie das können, umso eher ernten sie ein bestätigendes Kopfnicken ihres Unterrichters. Sie werden damit mit Zahlen belohnt, je kleiner desto besser. In anderen Ländern ist der Unsinn logischer strukturiert, nämlich umgekehrt.

 

Irgendein schlauer Mensch hat einmal gesagt, dass Prüfungen dazu da sind, alles wieder auszukotzen, was man an zu viel Stoff aufnehmen musste, nämlich alles, was der Kopf und der Körper nicht vertragen. Aber bis zum Test strengen sie ihren Kopf an, einige bis sie Kopfschmerzen bekommen. Es geht oft nichts mehr rein oder sie haben das Gefühl ihre Köpfe müssten bersten. Auch mitleidende Eltern stehen bei diesem Lernen gerne Kopf, weil so viele keinen Kopf daran bekommen, warum nichts reingeht, in die Köpfe der Schutzbefohlenen. Früher gab es beim Nichtlernen gerne eine Kopfnuss oder ein paar hinter die Ohren vom Haupt der Familie. Heute ist der eher anderweitig beschäftigt und überlässt es vor allem in der Grundschulzeit der Mutter, die Enttäuschung oder Gleichgültigkeit der Eltern zu artikulieren. So entstehen andere Themen wie „symbiotische Beziehungen“ von Helikopter- oder Curlingmüttern…

 

So hauen sich viele der jungen Lerner noch anderen Stoff in die Köpfe oder bekommen es von fürsorglichen Eltern verabreicht. Da gibt’s Süßigkeiten, Medikamente, Drogen, Alkohol, Nikotin, laute

Musik, Computerspiele. So kommen Ideologien von Nazis oder Vordemokraten, christlichen oder islamischen Fundamentalisten oder esoterischen Subkulturen, aber in der Regel schlichtes Konsumdenken in die Köpfe. So glauben einige nichts für den Kopf tun zu müssen, andere Ordnung schaffen zu können, oder andere ein befreiendes Chaos zu erleben, Sinn, oder wieder andere, endlich Erlösung in der Ruhe eines leeren Kopfes zu finden. Viele verlieren dabei den Kopf, steigen aus, verweigern sich, schwänzen. Jede Fünfte ritzt sich die Arme auf, einige schneiden sie ganz auf. Junge Menschen, angesichts einer permanent überfordernden Kindheit und Schulzeit, werden kopflos.

 

Lehrerinnen und Lehrer haben sich so einiges ausgedacht. Einige lassen erst gar nicht mehr so viel rein in ihre Köpfe. Sie arbeiten, wie sie es schon in ihrer eigenen Schulzeit taten, für den Test und die Noten. So kommen sie weiter, erst durch die Prüfung, dann in den Dienst, und  dann von einem Schultag zum nächsten. So kamen sie ja schon durch die Schule, meist mit guten Kopfnoten. Gelernt ist gelernt!

 

Ein Gros der Lehrer findet sich damit ab, dass es bei ihnen nicht besser geht oder, dass sie in der Langeweile des Durchschnitts dahin dümpeln. Oft greifen sie zu den gleichen Mitteln wie ihre Schüler. Sie schimpfen, werden krank, fehlen, sie trinken über den Pegel, sie werfen Psychopharmaka ein. Andere steigen aus.

 

Einige reagieren auch resigniert, sarkastisch, zynisch oder leben es aus, dass sie Macht über ein paar Menschen haben. Sie behaupten sich durch Herrschaft.

 

Andere werden stoisch und arbeiten nicht mehr mit dem Kopf, sondern mit dem Hintern, an dem sie alles vorbei gehen lassen. Andere merken nichts und machen weiter wie bisher, bis zur Pension, oder früher.

 

Andere wollen noch mehr in ihren Köpfen drin haben, besser werden, perfekter, sich beweisen, werden noch kopflastiger. Sie besuchen noch ein paar Fortbildungen, setzen sich Giraffenohren oder die neuesten digitalen Kopfhörer auf den Kopf. Wenn sie dann im Alltag vorwärts kommen oder nicht, endet dies zunächst beim Osteopathen, später wird’s Burnout. Vorher und nachher rät der Therapeut noch zur Wiedereingliederung oder zur Frühpensionierung. Sie können dabei Kopf und Kragen verlieren. Auch sie sind überfordert.

 

Die Wenigen, die es anders machen, nicht als Herren der Fächer und des Lernens auftreten, fallen auf. Wenn sie vormachen, dass die Fächer an die Lerner herangetragen werden können, werden sie aus dem laufenden Lernbetrieb heraus genommen. Wenn es ihnen gelingt, die Lerner für das Lernen zu begeistern, es gar schaffen, dass sie selbstständig arbeiten und lernen, werden sie zu Fachleitern, Schulleitern, Schulräten, Amtsräten oder in die Lehre befördert. So fehlen die wenigen „Künstler“ vor Ort. Das System dünnt sich  selbst aus.

 

Sie kommen in höhere Positionen. Erst geben sie weniger Unterricht, später keinen mehr. Ihre Aufgabe ist es, anderen Lehrerinnen und Lehrern zu erklären, wie man das Wissen in die Köpfe der Lerner bringt. Schließlich haben sie bewiesen, dass sie es bei Kindern konnten. Der „neue“ Lehrer hat „Persönlichkeit“, kann das System bereichern und Prozesse initiieren. Zu viele von ihnen schaffen das, was sie mit Kindern und Jugendlichen noch schafften, mit Lehrer und Lehrerinnen aber dann nicht mehr. Sie lehren nun keine Inhalte mehr, sondern die Psychologien der Veränderung

 

Einige dieser Kollegen bleiben - trotz konzentrierter Fortbildung in Betriebsführung, Schulmanagement, Schulentwicklung, Kursen in die Tiefen der Psychologie und der Organisationsentwicklung - frühere Erfolge vorenthalten.

 

Diese ehemals tollen Lehrerinnen und Lehrer können mit den Jahren ganz traurig werden. Oder sonderbar. Einige von ihnen erfinden als Ersatz neue Aufgabengebiete. Sie schreiben tolle Projektanträge, initiieren ein Medien wirksames Schul- und Kulturleben, gewinnen Preise, machen ansehnliche digitale Schaubilder, Netzwerkverknüpfungen oder machen Öffentlichkeitsarbeit, bis ihre Schule „gut da steht“. Einige machen noch ein paar Exceltabellen oder entwickeln eine neue Verwaltungssoftware.

 

Es gibt aber auch solche, vor allem in den Grundschulen, in den Förderschulen, ein paar in den Oberstufen, wenige in der Sekundarstufe, die anders sind.

 

Sie erkennen, dass es nicht ihr Job ist, dafür sorgen zu müssen, dass Lerner Lehrerköpfe anzapfen und deshalb alles in diesen Köpfen drin sein muss. Sie überlassen und lassen den Kindern und Jugendlichen die Selbststeuerung ihrer Gehirne, Köpfe und Lebenswege. Es wird die Sache der Lerner, wo sie die Nase reinstecken, in welche Richtung sie blicken, zu lernen auf sich selbst und andere zu hören, wahrzunehmen, zu fragen, zu forschen, eigen aktiv zu handeln, verantwortlich zu sein, als Mensch und als Mitmensch.

 

Sie akzeptieren es, dass die Lerner ihr eigenes Verhältnis zu Fächern, zum Erkennen und zur Erkenntnis, zum Lernen haben. Sie zwingen die Lerner nicht mehr in den „gelehrten“ Kopf schauen zu müssen, um ihre Fachinhalte zu begreifen. Sie gehen auf die Lerner zu. Sie gehen zu deren Lernen und wissen auch, wann sie nicht gebraucht werden.

 

Sie sehen sich nicht mehr als die Herren der alles beherrschenden Fächer, die da stehen, wohin sich die Lerner zu bewegen haben. Sie überlassen den Lernern die Fächern, oder besser die „Gegenstände“,  wie Österreicher viel klarer zu „Fächern“ sagen. Sie dürfen selbst lernen!

 

Und siehe da, ihre eigenen Lehrerinnen- und Lehrerköpfe werden nicht dicker, aber schlauer, wenn sie es aufgeben, intelligenter als Kinder sein zu wollen, nur weil diese jünger sind.

 

Sie brauchen keine Tests und Noten mehr, die ihr Wissen in den Köpfen anderer überprüfen. Sie lernen selber von und mit Lernern. Sie vertragen ihr eigenes Lernen.

 

Diese Lehrerinnen  und Lehrer suchen nicht mehr den guten Unterricht, sondern Lernqualität. Sie kreieren Normalität mit und zu Menschen und Orten, wo es etwas zu lernen gibt.

 

Sie stellen das Lernen vom Kopf auf die Füße. Sie drehen die Dinge so herum, dass alle sich wieder bewegen können. Sie gehen aufrecht, grazil, selbst bewusst. Sie gehen los– mit den Kindern und allen anderen Lernern – in die Welt des Lernens. Sie lernen das Lernen durch das Lernen von Lernen. Sie lassen Lernen zu, sie unterstützen und provozieren Lernen. Sie verlangen das Öffnen der Türen zu allen Erkenntnissen und Kenntnissen der Welt durch die Lernenden selbst.

 

Dieses Öffnen aller Türen ist „Offenes Lernen“! So lernen wir uns selbst zu strukturieren.

 

Und die Lernenden und ihre Köpfe? Sie tragen sie hoch. Wie Menschen.